Oslo-Stories: Träume – Kritik

Johanne verliebt sich in Johanna. Nur ein Buchstaben trennt die beiden Hauptfiguren in Dag Johan Haugeruds Berlinale-Gewinner Oslo-Stories: Träume. Erzählt wird – meisterlich - die intime Geschichte einer ersten Liebe, die aus der Literatur kommt und wieder in sie zurück fließt.

Oslo-Stories: Träume (Drømmer) ist ein Film über die Liebe und über die Literatur. Johanne ist siebzehn, eine junge Frau, der diese erste Liebe widerfährt und die von dieser ersten Liebe erzählt. Ihre Stimme ist schon dem Blick in die Wolken, die Wolken von Oslo, über die sie ganz zu Beginn nachdenkt, unterlegt. Wolkengeboren ist diese Geschichte, aber die Liebe, von der sie erzählt, ist auch angeregt, vorgespurt von der Literatur. Johanne nennt als Erzählerin selbst den Titel des Buchs, “L’esprit de famille”, das sie liest, in dem sie von einer Liebe liest, die sie, in schlagenden Details ganz ähnlich, einholend und wiederholend erlebt und imaginiert.

Dieser Beginn, im Nachhinein, als Bericht über eine Lektüre, ist selbst schon Roman. Johanne wird, wie sich herausstellt, über jene erste Liebe geschrieben, sie also selbst schriftlich in Worte gefasst haben, die ihr widerfahren sein wird. Der Film, als Erzählung, holt das Nachhinein nach und nach ein, eine sehr bewusste, sehr intrikate Konstruktion des Regisseurs und Drehbuchautors Dag Johan Haugerud, der schon Romanautor war, bevor er Filme zu machen begann.

Wolkengeboren

Von 2014 ist sein mittellanger Film Det er meg du vil ha, zu Deutsch: “Mich willst du haben”. Der pseudo-dokumentarische Monolog einer rund vierzigjährigen Frau, die sich in einen ihrer fünfzehnjährigen Schüler verliebt - und mit ihm nun, zehn Jahre danach, zusammenlebt. Nach einer wahren Geschichte, es spricht einzig und man sieht nur die Frau, die aber von einer Schauspielerin dargestellt wird, Andrea Braein Hovig, die in einem andere Teil von Haugeruds Oslo-Trilogie, Kjaerlighet (Liebe), jetzt eine Hauptrolle spielt.

Es ist diese Geschichte, die den Plot von Träume inspiriert. Johanne (Ellen Overbye), die Schülerin, die sich in Johanna (Selome Emnetu), die strickende und bestrickende Lehrerin verliebt. Ein Buchstabe Unterschied nur. Wie sehr diese Liebe, von der Literatur und einem fast gewaltsamen Das-jetzt-erleben-Wollen mehr als vom Leben genährt, narzisstische Projektion ist, wird später schmerzlich deutlich. Haugerud lässt sich also inspirieren durch “Det er meg du vil ha”, verkehrt aber die Perspektive: Es ist nicht die Lehrerin, die spricht, sondern die Schülerin, die erzählt. Und Haugerud, der selbst schwul ist, ändert ihr Geschlecht, so dass es nun um eine queere erste Liebe geht. Oder auch nicht - denn dieses Etikett wehrt Johanne, als es ihr aufgedrängt wird, verblüfft ab. Die Imagination der ersten Liebe: wolkengeboren, niemandem ist dergleichen je widerfahren. (Sie kommt aber doch aus der Literatur? Nein. Widersprüche zählen hier nicht.)

Das ist der Kern von Träume. Die anderen beiden Filme der Trilogie, Sex und Liebe, erzählen aus der Perspektive erwachsener Menschen, die an der Liebe zweifeln, oder an ihr verzweifeln, die sich angekommen wähnen oder glauben, dass sie nicht mehr ankommen werden, denen dann Unerwartetes mitten in den Routinen des Alltags widerfährt. Der glücklich mit einer Frau verheiratete Kaminkehrer-Mann hat bei der Arbeit spontan Sex mit einem anderen Mann. Die Ärztin lässt sich durch ihren Grindr nutzenden Kollegen zu einer Liebesnacht mit einer Tinder-Affäre inspirieren. Drømmer dagegen geht an den Anfang und Ursprung. Und schon der ist nicht einfach, sondern verdammt kompliziert.

Lesen als Deuten

Johanne schreibt auf, was ihr mit Johanna geschah. 95 Seiten. Die gibt sie ihrer Großmutter zu lesen, die Dichterin ist. Sie beschreibt das, diese Übergabe, ihre Gedanken dabei - im Voiceover, das die Bilder und Szenen des Films lange, aber nicht bis zuletzt unterlegt und umhüllt - als zweite Stufe einer Entäußerung. Die erste Stufe war das Aufschreiben selbst. Das Geschehen, das Glück dieser Erfindung der Liebe, in Worte zu fassen und so einen Blick darauf zu werfen. (Haugerud macht nicht explizit, wie sehr der Voiceover-Text identisch mit dem Romantext sein könnte. Das Sprechen im On und im Off ist immer ein Erzähl-, nie ein Vorleseakt.) Die zweite Stufe ist die Übergabe des Texts, und damit der ureigenen Geschichte, an die Vertrauensperson. Die bringt dann ihre Tochter, Johannes Mutter, ins Spiel. So kommt es zum Lesen als Deuten. Hat die Lehrerin womöglich die Tochter, Enkelin, Schülerin Johanne missbraucht? Ist der siebzehnjährigen Erzählerin ihrer eigenen Geschichte die Souveränität, die sie in ihrem Text demonstriert, wirklich zuzutrauen?

So kommt die intime Geschichte der ersten Liebe zur Welt. Zugleich ist sie, wie alle Filme der Trilogie, immer schon präzise verortet: in Oslo, in den Wolken und Häusern der Stadt, das Rathaus, das in Liebe im Zentrum steht, ist hier prominent im Schlussbild zu sehen. Liebe hat freilich den größten Radius der drei Film. Die der Stadt vorgelagerte Insel, die Fähre dorthin sind wichtige Orte, der Blick aufs Ganze, die geologische Tieferlegung oder auch ein Blick von über den Wolken sind in diesem Film über das Erwachsensein als In-die-Welt-Hineingewachsensein wichtig. Sex wiederum schwebt und strebt Richtung Dach, wo die Kaminkehrer sitzen und reden, Fragmente einer Sprache der Liebe von ziemlich weit oben.

Und Träume: In einem schicken, etwas anonymen Viertel der Innenstadt lebt Johanna, zu der Johanne auf Flügeln der Musik unterwegs ist, neunmal insgesamt, sie hat mitgezählt, natürlich hat sie mitgezählt, es ist eines der vielen tollen Details, an denen sich Haugeruds Meisterschaft zeigt. Sie ist unterwegs im Dunkel des Abends, dazu die ganz eigene, zugleich geerdete und treibende, coole und heiße, zu sinfonischem Aufschwung bereite Musik Anna Bergs. Der Einsatz der Musik in den Filmen ist ein Kapitel für sich, die beiden anderen laufen auf Live-Performances zu und hinaus, in Träume bleibt sie im Hintergrund, den sie für Momente aber stark bestimmt.

Raum für die Träume

Warm sind die Farben, ein einziges Dunkel-und-Licht-Spiel ist das Treppenhaus beim Blick von unten nach oben, warm sind die Räume und auch die von Johanna gestrickten Pullover im Winterfilm der Back-to-back gedrehten Trilogie. Das Treppenhaus, die Treppe: ausgestelltes Leitmotiv dieses Film. Eine Treppe im Wald, einmal fast als Himmelsleiter aus Licht ins Dunkel hinein modelliert, ist ein Ort, zu dem der Film geht und zurückkehrt. Aber gerade nicht Johanne folgt er hier, sondern der Großmutter, bis in deren Träume hinein. So wie die erste Liebe von Anfang an in eine literarische Tradition hineingestellt wird, so wird Johanne in eine weibliche Generationenfolge gerückt.

Die Mutter, die Großmutter, denen sie ihre zum Quasi-Roman entäußerte Geschichte überlässt, erzählen einander vor diesem Spiegel auf einer zugleich bewegenden und komischen Waldwanderung ins Dunkle hinein ihre Vergangenheit, je für sich und auch miteinander. Von der Zahl der Männer, mit denen sie schliefen, bis zum Streit um Flashdance, den Film, den die feministische Großmutter der von ihm begeisterten Tochter einst vermieste. Es ist für beide ein Schock: Die Tochter, die Enkelin, ist jetzt, als wäre es plötzlich, klug, fast erwachsen. Sie können sich in ihr wiedererkennen, aber es wird ihnen auch, bis zur Eifersucht fast, mehr als deutlich: Die Jüngere hat noch so viel von dem vor sich, was die beiden schon mehr oder weniger hinter sich haben.

Auch die Literatur ändert dabei ihre Funktion: Die Gedichte, die die Großmutter schreibt, sind ein Raum für die Träume, nachdem sie im Leben ausgeträumt sind. Der Tochter, die Mutter ist, gelingt es nach anfänglichen Schwierigkeiten, zwischen den Seiten, in die ihre Tochter die Geschichte der ersten Liebe gefasst hat, geradezu zu versinken. Und so, und hier, durch eine Lektüre des Texts als Literatur, durch die Identifikation, die durch die Fremdheit der Quasi-Fiktion hindurchgehen muss, gelingt es ihr auch, die Emanzipation der eigenen Tochter zur Liebenden und Schreibenden zu akzeptieren. Und die Enkelin, die Tochter ist, geht ihren Weg. Nicht nach links, dem Mann hinterher, sondern nach rechts, Richtung Rathaus, denn es gibt mehr als eine mögliche Zukunft.

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