Orphea in Love – Kritik
Axel Ranischs gendergeswappte Orpheus-Variation um eine erfolglose Opernsängerin im Call-Center deutet eine Modernisierung des Stoffes an, kommt aber vor allem in der Feier des Mythos von der Liebe zu sich.

Bürokabine neben Bürokabine. In jedem Quadrat ein Laptop, vor jedem Laptop ein Mensch mit Headset und breitem Lächeln. Sehen können die Kunden das Lächeln nicht – aber hören können sie es in der Stimme. Hier arbeitet Nele (Mirjam Mesak) und träumt von einer Karriere als Opernsängerin. Ab und zu schielt ihr Kollege über die mit Post-Its beklebte Absperrwand und stimmt mit ihr eine Arie an. Dann lösen sich plötzlich die Wände auf, das Büro bricht in Tanz aus, Traumwelt fließt in die Realität… bis die Chefin (Christina Große) in die Hände klatscht und die Fantasie-Blase zerplatzt.
Gospelchor im Badezimmer

Nun ließe diese erste Szene von Orphea in Love eine strenge Erzählformel erahnen – eine Trennung zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Axel Ranischs moderne Adaption des Orpheus-Mythos besitzt aber keinen Anspruch auf Logik, der Regisseur zeichnet sich schließlich vor allem durch seine Impulsivität aus. Bekannt geworden ist er durch seine Mumblecore-Filme, in denen er das improvisierte Schauspiel auch immer mit einer gehörigen Portion Absurdität anreichert. Sei es in Ich fühl mich Disco (2013) durch Schlager-Vogel Christian Steiffen oder durch die ausgedehnten Hypnose-Sequenzen in seinem berüchtigten Tatort Babbeldasch (2017). Dass er sich jetzt zunehmend Opernstoffen auf Bühne und Leinwand annimmt, ist aufregend, verspricht die Konstellation doch eine Art emotionale Übersetzung der alten Stoffe durch einen Filmemacher, der die Oper liebt und zugleich gerne mal einen Gospelchor im Badezimmer auftreten lässt.

Ranisch setzt sich bereits zu Anfang von seiner Vorlage ab, indem er die Geschlechter der Figuren vertauscht: Orpheus heißt jetzt Nele und ist eine erfolglose Opernsängerin, die ihr Geld mit Nebenjobs verliert. Eurydike heißt Kolya (Guido Badalamenti) und ist ein tanzender Taschendieb, der mit seiner Komplizin Lilo (Ursula Werner) in einem verlassenen Bahnhof haust. Natürlich darf auch Ranischs Stammcast nicht fehlen: Heiko Pinkowsi etwa spielt den Zigarre rauchenden Manager Höllbach, ein herrlich offensichtlicher Alias des Gottes Hades.
Virtuose Telekom-Ästhetik

Ranisch möchte in Orphea in Love seine Lieblingsmusik und das, was die Oper für ihn bedeutet, in eine neue Form bringen. Gemeinsam mit dem Bayerischen Staatsorchester verarbeitet er im Film unter anderem Musik von Puccini, Verdi, Berlioz und Monteverdi. Das Ganze ist wie ein Best-of seiner Lieblingsmomente der letzten Jahrhunderte. Klar im Fokus stehen dabei zwei Disziplinen: erstens der Gesang, dargeboten durch Estländerin Mesak, die durch ihre nahbare und bodenständige Präsenz ein tolles Gegengewicht zur Intensität der Lieder bietet; zweitens der zeitgenössische Tanz von Badalamenti. Ohne viele Erklärungen werden die beiden in ihren unterschiedlichen Ansätzen, ihre Gefühle auszudrücken, durch ihre jeweiligen Künste charakterisiert. Beiden überlässt Ranisch geduldig die Bühne seines Films.

Ranischs Stil war schon immer von einer Form von Kitsch durchzogen. In Orphea in Love steht dieser in Bezug zur kulturellen Tradition der Oper, zieht damit unweigerlich Verbindungen zu alten, leicht wiedererkennbaren Erzähl- und Bildkonventionen – und ist genau in diesen Momenten am langweiligsten. Wenn Orphea und Kolja aufeinandertreffen, fängt Kameramann Dennis Paul das in fein choreographieren Plansequenzen ein; die Kamera gleitet durch U-Bahn-Stationen und Schneeschauer und fängt jedes Linsenflimmern der bunten Neonbeleuchtung ein. Das alles trägt zu einer Ästhetik bei, die in einer Telekom-Werbung nicht unpassend wäre. Denn gerade mit Blick auf die lange Geschichte der Fernsehwerbung scheint es schwierig, noch irgend etwas Neues aus dem Bild zweier Menschen zu pressen, die sich verliebt in die Augen schauen. Irgendwie wahrhaftiger fühlen sich deshalb die Momente an, in denen der Regisseur seinem Hang zum Abstrusen nachgeht. Was man vorher noch nie gesehen hat: Ursina Lardi, die in Clownsmakeup eine Arie auf einer kotverklebten Toilette singt.
Eine Ode an den Gedanken an den Mythos der Liebe

Ein Kniff in Orphea in Love ist der bereits erwähnte Gender Swap. Man würde erwarten, dass dahinter womöglich die Absicht steckt, Geschlechterrollen zu hinterfragen oder zumindest zu durchmischen. Hier ist das aber nur bedingt der Fall. Im Orpheus-Mythos ist Eurydike der klare Preis; ihr Schicksal hängt von Verhandlungen zwischen Mann und Gott ab. In Ranischs Interpretation liegt es zwar jetzt an Nele, ihren Geliebten zu retten, aber er zwingt sie außerdem, ihre Gesangsstimme im Tausch für das Leben Kolyas aufzugeben – eine Entscheidung, die von Orpheus niemals abverlangt wurde. Hier könnte man auch einen Querverweis herauslesen: Der Verlust der Stimme erinnert an Hans Christian Andersens Kleine Meerjungfrau. Doch als Moral der Geschichte hätte man Nele die Erkenntnis gewünscht, dass die Aufgabe der eigenen Träume für die Liebe zwar romantisch klingt, aber auf lange Sicht eine ganz furchtbare Entscheidung ist. So ist es teilweise frustrierend, dass der Film moderne Diskurse auf die antike Sage projiziert, nur um dann doch wieder auf die alten Erzählmechanismen zurückzugreifen.

Letztlich ist Orphea in Love eine Ode an den Gedanken an den Mythos der Liebe. Als Ranisch am Ende seine Hauptfigur noch mit einer langen, dramatischen Hintergrundgeschichte versieht, will das deshalb nicht so ganz funktionieren, und ist eigentlich auch gar nicht nötig. Am wirkungsvollsten ist der Film, wenn man sich im wohlwollenden Kitsch fallenlassen kann, und im Gefühl, das wir manchmal bekommen, wenn wir einander Geschichten von der Liebe erzählen. Wie im echten Leben ist dieses Gefühl umso stärker, je weniger wir vom anderen Menschen wissen.
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