Orphea – Kritik
Was bleibt übrig, wenn alle Kunst tot ist, alle Revolutionen gescheitert und alle Menschen zu Puppen geworden sind? In Alexander Kluges und Khavns Orphea herrscht wieder das Gesetz des Mythos – mit dem Gesicht einer Frau und in Form von anarchischem Dilettantismus.

Ein Tanz in Stöckelschuhen auf alten Handys führt noch nicht in den Eingang des Hades, wo das lineare Fallen von Zahlen einer alten Digitalität jede Wiederbelebung gewesener Revolutionen auszuschließen scheint. Ganz logisch also, alle Wiederbelebungsversuche in einer launischen Verspieltheit zu unternehmen und dabei aber auf jede Ironie zu verzichten. Schließlich hat man es mit einem Mythos zu tun. Aber was tut man mit dem Mythos in einer Zeit, in der die Kunst gestorben ist wie eine Schlange, die weiterzuleben scheint, weil ihre Haut von tausend Ameisen in Bewegung versetzt wird? Man übergibt ihn dem Gewimmel von Verweisen, die uns seine Geschichtlichkeit heute liefert, und gibt ihn zugleich assoziationsgeleiteten Entfremdungen anheim, beispielsweise einer Taxonomie von Schlangenbissen. Das Resultat ist also eine Verflechtung von Experiment und Tradition, Auflösung und Wiederholung: Die neue Produktionssynthese von Alexander Kluge und Khavn heißt Orphea und feierte 2020 ihre Premiere auf der Berlinale.
Man bewegt sich nun im Reich der Toten

Ovid, Vergil, Monteverdi, Gluck, Mandelstam, Bob Dylan, Khavn: in einer der häufigen, absichtlich amateurhaft gestalteten Texttafeln erscheinen diese Namen, die einen Mythos heraufbeschwören und dessen geschichtliche Präsenz bis zur Selbstreferenzialität artikulieren. Der Mythos des Orpheus ist ein Mythos der Wiederbelebung: Orpheus tritt den Gang in die Unterwelt an, um Eurydike, die gestorbene Geliebte, wieder in die Welt der Lebenden zurückzuholen. Alexander Kluge, einer der Gründerväter des Neuen Deutschen Films, der sich bereits mit Happy Lamento (2019) in einer Kollaboration mit dem philippinischen Experimentalregisseur Khavn De La Cruz nach einer über 20-jährigen Kinofilmpause wiederbelebt hat, unternimmt nun mit Orphea den Versuch einer Wiederbelebung des Orpheus-Mythos und einer Auseinandersetzung mit den damit verbundenen Implikationen. Orpheus, ein Mann, ist nun Orphea, eine Frau geworden. Und da alle Männer gleich sind, wie der Herrscher der Unterwelt konstatiert, fällt Orphea die Aufgabe der Wiederbelebung aller toten Männer zu, und nicht nur aller Männer: Der Untertitel des Films lautet „Apokatastasis panton“, die „Wiederbelebung aller“. Orphea soll alles, was tot und vergangen ist, wiederherstellen.

Die Wiederkehr des Orpheus-Mythos durch die Hände von Kluge und Khavn schließt also an das Scheitern der Wiederbelebung von Eurydike durch Orpheus im Mythos an. Man bewegt sich nun im Reich der Toten. Der Film und selbst die Kunst sei tot, wie wir es durch eine Erinnerung an eine Aussage Ingmar Bergmans erfahren. Die Welt besteht nun aus Gespenstern, das heißt Wesen, die wiederkehren. Der antike Kult kehrt hier als orgiastisches Rockfestival wieder, die russische Revolution und die Sowjetunion spuken hier und da, Lieder von Tschaikowski und Adorno, das Trauma von Lampedusa, alte Bibliotheken, alte Uniformen, alte Geräte, alte Filmaufnahmen und zahlreiche Puppen. Das Reich der Gespenster kennt keine Ordnung und keine Hierarchie, denn alles ist fehl am Platz und entfremdet. Alles trägt den Stempel der Vergangenheit und ist dennoch in aller Unheimlichkeit gegenwärtig.
Freies, gespenstisches Spiel

Und was macht Orphea? Orphea, verkörpert von Lilith Stangenberg, ist nicht minder ein Gespenst. Sie geistert durch die Geisterwelt, sie ist das Subjekt-Gespenst des Films. Mal spricht sie mit der Stimme von Kluge, mal wandelt sie auf einem geschrumpften Planeten, mal kriecht sie aus einer Muschel in der Wüste, mal tanzt sie vor einem reingeschnittenen Bluescreen-Hintergrund, und ziemlich oft singt sie, pathetisch und teilnahmslos zugleich, Lieder mit einem Klavierbegleiter. Schließlich ist sie Musikerin, und die Musik ist dazu da, das Liebste aus der Hölle herauszuholen, heißt es an einer Stelle. Nun ist aber alles in der Hölle, und wenn das, was sie herausholen soll, alles ist, dann muss sich ihre Liebe ebenfalls auf alles beziehen. Und eine Liebe, die sich auf alles bezieht, ist eine entfremdete, gespenstische, leere Liebe.

Kluge und Khavn präsentieren uns einen Essay über den Wiederbelebungsmythos, der bei aller formalen Zerstörungsfreude einen extremen Hang zum Recyceln aufweist, was aber zweifellos dem Programm des Werks entspricht. Hier werden viele formale Experimente der Filmgeschichte in einer Weise wiederverwendet, die sich gewissermaßen als Reminiszenzen mit einer fast nostalgischen Qualität präsentieren und dennoch den Anschein radikaler Dekonstruktion in sich tragen. Orphea ist aber weder Dekonstruktion noch ein stream of consciousness, wenngleich er sich beider Methoden bedient. Es geht ihm auch nicht um eine Reflexion der filmästhetischen Mittel – es gilt ernst zu nehmen, dass der Film bewusst mythisch, nicht wissenschaftlich ist. Das Programm der Wiederbelebung löst die eigene Programmatik in ein kreatives Chaos auf, indem es emphatisch bejaht, was schon immer durch das Wesen des Experimentalfilms geisterte: den Dilettantismus.
Damit versperrt sich der Film jeder Vereinnahmung durch eine Form und bleibt freies, aber auch gespenstisches Spiel. Wie die Existenz des Vergangenen geisterhaft, nichtseiend, tot ist, sind auch die filmischen Formen verbraucht und von vornherein gescheitert. Das Scheitern ist dem Orpheus-Mythos ohnehin eingeschrieben. Vielleicht ist es aber auch eine Konsequenz, die aus dem Tod des Films gezogen wird.
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