Onoda: 10.000 Nächte im Dschungel – Kritik

VoD: Im philippinischen Dschungel setzt ein japanischer Guerillakämpfer den Zweiten Weltkrieg jahrzehntelang im Alleingang fort. Seine verworrenen Welterklärungsversuche zeigt Arthur Hararis Film Onoda als ein Beispiel für Fake-News-Logik.

Die Geschichte des Soldaten Hirō Onoda, der im Alleingang über Jahrzehnte den Zweiten Weltkrieg im Dschungel einer philippinischen Insel fortsetzte, ist in Japan zu einem Mythos geworden. Onoda war im Dezember 1944 nach Lubang versetzt worden, um dort einen Guerillakrieg gegen die anrückenden Amerikaner zu führen, als die japanischen Truppen sich schon auf den Rückzug vorbereiteten. Auch nach der bedingungslosen Kapitulation im darauffolgenden Jahr setzte er seinen Kampf fort, zuerst mit einigen Kameraden, dann allein, bis er 30 Jahre später zur Rückkehr nach Japan überzeugt werden konnte. In seinem unbedingten Aufrechterhalten des indoktrinierten Siegeswillens war Onoda nicht allein. 1972, in dem Jahr, als eine japanische Delegation, die den Soldaten zur Kapitulation zu überreden versuchte, ihre Mission auf Lubang erfolglos abbrechen musste, schätzen die Behörden die Guerillera, die weiterhin für Japan im Krieg waren, auf über 5000 Mann in China, Vietnam, Neuguinea, auf den Philippinen und anderswo.

Kein Aguirre, kein Fitzcarraldo

Im vergangenen Jahr haben sich gleich zwei europäische Filmemacher diesem Stoff gewidmet. In seinem Romandebüt Das Dämmern der Welt berichtet Werner Herzog von seinem Treffen mit dem ehemaligen Soldaten während eines Japan-Aufenthaltes und zeichnet das Leben Onodas im Dschungel nach. Das Buch erschien wenige Wochen, nachdem Arthur Hararis Film Onoda – 10.000 Nächte im Dschungel beim Festival in Cannes die Sektion „Un Certain Regard“ eröffnet hatte.

Wo es bei Herzog im Kern um die Verschmelzung des Menschen mit dem Dschungel geht und der Unwille zu scheitern als grandiose Verblendung beschrieben wird, wie sie auch vielen seiner Filmfiguren zu eigen ist, beschreitet der französische Regisseur Arthur Harari andere Wege. Sein Onoda ist keine mythologische Figur, die wie Aguirre auf der Suche nach El Dorado wahnsinnig wird oder wie Fitzcarraldo ein Schiff über einen Berg ziehen lässt. Wenn in Herzogs Roman die Alliierten die Insel angreifen und die Japaner sich in den Dschungel zurückziehen, weist Onoda seine Kameraden an: „Wir müssen unsichtbar sein, wir müssen den Feind täuschen, wir müssen bereit sein, ehrlos scheinende Dinge zu tun, ohne dabei in unseren Herzen die Ehre des Kriegers zu vergessen.“

Im Film dagegen ist Onoda (Kanji Tsuda) kein Wiederkehrer der Samurai, der sich einem eigenen Kodex verschrieben fühlt. Obwohl Harari die klassische Abenteuerliteratur als Inspiration nennt, ist sein Protagonist kein Entdecker, der sich getrieben von der Lust aufs Unbekannte in Gefahren wirft. Die Tage und Nächte im Dschungel verbringt er als Gehetzter, in Angst vor feindlichen Angriffen und den Zumutungen des Überlebenskampfes ausgesetzt. Auf 16 mm gedreht, changiert die Natur im Film zwischen Gefahrenort, der die Soldaten mit giftigen Früchten dahinrafft und hinter jeder Flussbiegung einen Feind verhüllt, und einer Schönheit, die den japanischen Soldaten jedoch immer entrückt bleibt. Ihre Kehrseite denkt der Film mit, ohne sie direkt ins Bild zu setzen. Doch mit der Zeit wird deutlich, dass es auf der anderen Seite des dichten Waldes eine Welt gibt, in der Bauern ihre Felder bestellen und ein friedliches Leben verbringen, unterbrochen nur von den Sabotageakten der Japaner, die die Einheimischen weiterhin als Gegner in ihrem persönlichen Krieg imaginieren.

Opfer der Indoktrinierung

Es ist die Stärke des Films, diese Dualität nicht in Richtung einer einseitigen Identifikation aufzulösen und das Verhalten Onodas zwar psychologisch herzuleiten, aber zugleich in einen politischen Kontext zu stellen. Wir verfolgen die Geschehnisse zwar aus seiner Sicht, dennoch schafft Hararis Inszenierung eine Distanz, die eine Reflexion über die Handlungen seiner Figuren erlaubt. In einer Rückblende wird der junge Onoda (Yûya Endô) als ungeliebter Sohn des strengen Vaters skizziert. Beim frustrierten Verwüsten eines Lokals begegnet er dem Major Yoshimi Taniguchi (Issei Ogata), der den Zorn und die Verwirrung des jungen Mannes in Bahnen zu lenken weiß, die ihn zu einem nützlichen Werkzeug im Krieg gegen die Amerikaner werden lässt. Dem Mythos tritt hier eine Kritik entgegen, die die Indoktrinierung der Massen für den unbedingten Siegeswillen Japans problematisiert und die Soldaten schließlich als Opfer politischer Radikalisierung erscheinen lässt.

So schlägt der Film implizit auch einen Bogen in die Gegenwart. Am deutlichsten wird dies in den Szenen, wenn die Delegation aus Japan die zurückgebliebenen Soldaten vom Ende des Krieges zu überzeugen versucht. Von seiner Ausbildung in Guerillatechniken und dem jahrelangen Verbergen im Dschungel in eine Paranoia getrieben, kann Onoda die ihm präsentierte Realität nicht akzeptieren. Der Vater, der nach Lubang gereist war, um seinen Sohn zu überzeugen, wird als Schauspieler mit frappierender Ähnlichkeit abgestempelt, die Zeitschriften, die vom Leben im Nachkriegsjapan künden, als raffinierte Fälschungen. Sein letzter verbliebener Gefährte Kozuka (Tetsuya Chiba) zweifelt noch, ob die Nachrichten des Kriegsendes nicht doch wahr sind, und so entspinnt Onoda ein Geflecht von Verbindungen, das in den Zeitschriften und Radiobeiträgen Wahres mit Fabriziertem in Einklang bringt.

Hoffnung auf Verständigung

Es ist die Darstellung dieser Fake-News-Logik, die Arthur Hararis Films so aktuell macht und ein Psychogramm verworrener Welterklärungsversuche entwirft. Die klassische Inszenierung mit ihren präzisen Schienenfahrten, den Kameraschwenks und Zooms lassen Onoda – 10.000 Nächte im Dschungel einerseits als ein Werk erscheinen, das die formalen Eigenheiten der Zeit, von der es erzählt, angenommen hat. Andererseits analysiert Harari damit aus der Vergangenheit heraus unsere disruptive Gegenwart. Als sich durch den Film ziehendes Motiv, das die Verzerrungen in der Wahrnehmung der Soldaten spiegelt, dient ein Musikstück. Auf Basis von dessen Melodie singen die Figuren an mehreren Stellen sich ähnelnde und doch in unterschiedliche Richtungen weisende Strophen: mal im Tonfall persönlicher Frustration, dann von Patriotismus erfüllt und später als verzweifelter Ausdruck der Resignation. Schließlich ist es aber die den widersprüchlichen Interpretationen gemeinsame Melodie, die Hirō Onoda aus dem Dschungel in die Zivilisation zurückführt und so die Hoffnung weckt, dass Verständigung noch immer möglich ist.

Der Film steht bis 29.08.2023 in der Arte-Mediathek.

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