Once Upon a Time Was I, Verônica – Kritik

Krise und Lust, Diagnose und Kino.

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Die Klammer ist der Exzess. Sex am Strand in der ersten Szene, ganz ohne Zweisamkeit. Körper kugeln sich durch den Sand, küssen sich überall, berühren sich und lachen dabei, verschwinden in der Brandung, spielen – wie viele es sind, lässt sich kaum sagen, weil die Kamera mittendrin ist im Gewühl. Am Ende des Films werden wir zurückkehren an diesen Strand, zu den nackten Körpern, wir werden ein wenig verstanden haben, wir werden diese Szene einordnen können.

Doch halt, gerade das Einordnen müssen wir doch verlernen, sagt uns der dritte Kinofilm des Brasilianers Marcelo Gomes, der um das eben nicht zu ordnende Gefühl einer Lebenskrise kreist. Zu Beginn feiert Verônica (Hermila Guedes) gemeinsam mit ihrem stolzen Papa die erste Einstellung als Ärztin, aber schon bald resigniert sie vor der vermeintlich einfachen, weil erlernten Aufgabe des Diagnostizierens. Denn die Patienten in der stets überfüllten staatlichen Klinik kommen kaum mit einem klaren Krankheitsbild zur neuen Frau Doktor, leiden eher unter diffusen Kopfschmerzen oder ganzkörperlichen Hitzewallungen, alles schmerzt irgendwie, das Leben tut weh, genauer können sie es oft nicht fassen. Wie ließen sich hier noch Diagnosen stellen?

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Und Verônica selbst ergeht es ja nicht viel anders als ihren wenig kooperativen Patienten. Trotz objektiven Glücks – ihre innige Beziehung zum Vater, ihre Freundinnen, ihre Affären – zweifelt sie am Leben, wünscht sich etwas anderes, weiß nur nicht was. Once Upon a Time Was I, Verônica macht immer wieder deutlich, dass es bei diesem Wünschen nicht um die klassischen Erfüllungsvorstellungen geht. Es sind stets die anderen, die das Begehren nach Konstanz und engeren Bindungen an Verônica herantragen, vor allem ein Geliebter drängt sie zu einer festeren Beziehung, verlangt Liebeserklärungen, die sie ihm nicht geben kann und will. Dass Gomes seiner Protagonistin eine Lebenskrise ohne Liebeskummer gestattet, dass er das Bedürfnis nach Romantik vielmehr auf den Mann überträgt, das ist auch im Kino fern des Mainstreams noch längst nicht alltäglich.

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Verônica träumt also nicht von Hochzeit und Kindern, sondern von aufregenden Zungenküssen. Ihre Krisen kanalisiert sie stets in Sexualität, so formuliert sie es selbst einmal. Doch auch wenn ein Disco-Abend in eine durchaus bedrohliche Situation mündet, codiert Gomes die Promiskuität seiner Protagonistin nicht als Problem – das Problem ist höchstens, wie wenig der Geschlechtsakt zu tun hat mit jener stilisierten Eingangsszene am Strand. Jene Leere, die Verônica immer wieder beschreibt, sie wird zwar mit Sex gefüllt, doch daraus zu schließen, dieser sei Symptom der Depression anstatt möglicher Ausweg aus ihr, dieses Denken entspringt doch eher unseren Sehgewohnheiten als dem Film selbst. Doch verhält es sich hier nicht einfach andersherum, ist die Freizügigkeit nicht bloß heilsame Kur, vielmehr verweigert sich Gomes gänzlich einer medizinischen Logik, die das Leben Verônicas ohnehin schon zu sehr bestimmt und die auch das Genre des Problemfilms noch so oft heimsucht.

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Deutlich wird das in einer der rührend intimen Szenen mit Verônicas Vater, in dem dieser sich der abstrakten Traurigkeit seiner Tochter anzunähern versucht: Du weißt nicht, wie es mit deinem Job weitergeht, du denkst an deinen Freund, rät er. Doch die Tochter schüttelt nur den Kopf, antwortet, dass sie nur diesen Moment der Zweisamkeit mit dem Vater genießt, nichts anderes will. Gegen das Diktat der Diagnosen, gegen das ständige Abfragen von aktuellen Gefühlslagen mitsamt ihren vermuteten Gründen, setzt Verônica die Positivität des unscheinbaren Glücksmoments. Es sind nicht konkrete Probleme, die ihr Unbehagen bereiten, sondern die schmerzhafte Flüchtigkeit dieser Momente, die Frage, warum die in ihnen enthaltene Lust immer wieder aufs Neue getötet wird, das Glück ins Leere läuft und niemals zu Zufriedenheit gerinnt. Melancholie nicht als Mangel an etwas, sondern als Durst nach mehr, das intensive Fühlen und Wünschen ist zugleich Problem wie Lösung.

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Selbst die Schwächen des Films fügen sich ein in sein Prinzip der Auflösung therapeutischen Denkens. Neben der manchmal etwas schlichten Symbolik wäre da der Rückgriff auf allzu deutliche Mittel zu nennen: Wenn Verônica zwischendurch in ihr Diktiergerät spricht, ihre Gedanken zum Fall der „Patientin Verônica“ aufnimmt und Gomes dieses auditive Tagebuch immer wieder als Voice-over nutzt, dann mutet das zwar wie eine wenig elegante Abkürzung auf dem Weg in die Innenwelt seiner Hauptfigur an. Doch braucht eine Befreiung eben ihre Widerstände. Erst gegen Ende erklärt Verônica, dass sie versuchen will, ihr Leben anders zu denken, nicht als Case Study, sondern eher wie einen Film, ohne Einordnung, ohne Diagnose. Es war einmal ich, Verônica.

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Und so manifestiert sich schließlich, was in der Bildsprache des Films längst angelegt war, wo die diagnostischen Bilder, die statische Einstellung von Verônica an ihrem Arbeitsplatz etwa, immer wieder von genuin filmischen Momenten diffuser Bewegungen gestört werden, in denen Körper und Objekte alles andere als klar umrissen sind – Bilder, die keine Symptome sind, sondern Leben, für Verônica Problem und Lösung zugleich. Nicht das Sprechstundenzimmer, sondern der Kinosaal bietet Raum für dieses neue Denken. Aus dem eigenwilligen Porträt einer Lebenskrise entsteht damit auch ein bescheidenes Plädoyer für das Kino als Prinzip, als Ausweg aus dem ewigen diagnostischen Scheitern, hinein in ein Leben, in all das, was sich den Einordnungen entzieht und über sie hinausweist. Gruppensex am Strand wäre da doch ein guter Anfang.

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