Old Joy – Kritik
Ein Männerausflug im Wald wird zum Abgesang auf die amerikanische Linke. Kelly Reichardts Festivalhit Old Joy findet mit zwei Jahren Verspätung seinen Weg nach Deutschland.

Mark (Daniel London) führt ein gesichertes Leben, hat beruflichen Erfolg und wird bald Vater werden. Als sein Jugendfreund Kurt (Will Oldham) ihn einlädt, einen Ausflug über Nacht zu einer nahe gelegenen Heilquelle zu unternehmen, freut Mark sich auf eine kurze Auszeit von Heim, Familie und seiner schwangeren Frau Tanya (Tanya Smith). Für Kurt, der in abgerissenen Kleidern mit seinem heruntergekommenen Kleinbus durch die Gegend tingelt, ist Auszeit Normalzustand.
Zwei Tage und eine Nacht wird der Ausflug dauern. Die Freunde sammeln ihr Gepäck ein und treffen die letzten Vorbereitungen. Aus dem Autoradio schallt schon während der Titelsequenz eine Reportage über das Erbe Lyndon B. Johnsons und den desolaten Zustand der amerikanischen Linken während der Präsidentschaft George W. Bushs. Kurt und Mark blicken durch die Fensterscheibe auf die Industriebrache an der Peripherie der Kleinstadt, in welcher auch die letzten Reste der Gegenkultur der Sechziger Jahre langsam aber sicher verschwinden. Kurts Dealer hat noch überlebt und Mark engagiert sich in seiner Freizeit in der Sozialarbeit. Doch der alternative Lieblingsplattenladen der Freunde ist im Stadtbild einem Fast-Food-Laden gewichen. Der Händler verkauft seine Platten inzwischen über das Internet.

Die melancholischen Gitarrenklänge von Yo La Tengo begleiten Mark und Kurt heraus aus der Kleinstadt und hinein in die Natur. Eine gleitende Bewegung ist das, keine abrupte. Langsam verschwinden die Häuser, die Zeitgeschichte rückt in den Hinter-, die Subjektivität der Figuren in den Vordergrund. Die Gespräche drehen sich nicht mehr so sehr um Aktualitäten, um Familienplanung oder Berufsleben, sondern driften in Richtung Vergangenheit, später gar in Richtung Metaphysik.
Kurt bewegt sich ungelenk, murmelt mehr, als dass er spricht, bewegt sich viel aber bewegt wenig, ist nicht ohne Energie aber denkbar unökonomisch, ein durch und durch intransitiver Mensch. Mark ist sich seiner selbst und seiner Stellung in der Welt gewiss, aber in der Gegenwart Kurts bleibt er gehemmt, seine Gesprächsbeiträge werden immer unsicherer, sind begleitet von Relativierungen und Rückversicherungen.
Die gemeinsame Basis ist verloren gegangen. Würden sich der bärtige, zerzauste Kurt und der auf deutlich adrettere Art seinen alternativen Wurzeln treu gebliebene Mark nicht von früher kennen, sie hätten sich nichts mehr zu sagen. Sie gehören längst zu „different communities“, wie Mark schließlich auch im Gespräch anerkennt. „Having kids is so fucking for real“, meint Kurt, dessen homoerotisches Verlangen – eine weitere Ebene dieses auf den ersten Blick sehr klaren, einfachen, auf den zweiten jedoch äußerst komplexen Films – unter der Oberfläche bleiben muss und sich nur einmal, kurz, in einer Ersatzhandlung, artikulieren kann.

Im Wald erkundet und analysiert Old Joy die versprengten Überreste der amerikanischen Linken. Der Wald ist auch nicht mehr das, was er mal war und der Zeltplatz eine einzige Müllkippe. Auf einen Befreiungsschlag ist nicht zu hoffen. Kelly Reichardts Film wird denn auch bestimmt von sanfter Melancholie, bleibt eine subtile, vielschichtige Bestandsaufnahme ohne Lösungsvorschlag.
Old Joy ist erst Reichardts zweiter Langfilm und entstand ganze 13 Jahre nach ihrem Debüt River of Grass. Das neue Werk wurde auf Festivals so frenetisch gefeiert wie kaum ein anderer amerikanischer Independentfilm der letzten Jahre. Weit weg ist Old Joy von den Indiewood-Produktionen der Weinsteins und ihrer Kollegen, von einem Kino, das sich von den großen Studioproduktionen immer schwerer unterscheiden lässt. Viel näher steht Reichardt dem aktuellen world cinema, dem neuen Kino der Langsamkeit, das vornehmlich in Asien, manchmal auch in Südamerika oder Europa stattfindet. In der Auseinandersetzung mit filmischen Formen aus anderen Kontinenten gewinnt Reichardt einen genauen Blick auf die amerikanische Gegenwart.

Freilich gibt es auch in den USA Wahlverwandte. An Vincent Gallos The Brown Bunny (2003) erinnern die Tonspur und einige stimmungsvolle Autopassagen, an die neueren Filme Gus van Sants das gemächliche Erzähltempo. Doch gerade im Vergleich mit letzteren werden die besonderen Qualitäten dieses wunderschönen Films deutlich: Kurt und Mark sind komplexe Figuren, die bis zum Ende nicht eindeutig festgelegt werden können, aber ihre unabschließbare Komplexität wird nachvollziehbar artikuliert, nicht via Mystifizierung bloß behauptet, wie im Falle der Hauptfigur von Last Days (2005). Und wo Paranoid Park (2007) im Ästhetizismus seines Kameramanns Christopher Doyle schwelgt, setzt Reichardt auf ökonomische, fast klassizistische Kadrierungen.
Old Joy hat es nicht nötig, die Welt oder die Menschen, die in ihr leben rätselhafter zu machen, als beide es in sich selbst ohnehin schon sind.
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