Im Schatten von Roubaix – Kritik
Arnaud Desplechin wagt sich in die Nacht einer verarmten Stadt und ins Crime-Genre. Opfern wie Tätern nähert sich Im Schatten von Roubaix mit dem Blick des Polizisten. Sein Blick auf den Polizisten bleibt dafür eigentümlich rätselhaft.

Am Ende dieser langen Nacht reitet der Sheriff zwar nicht in den Sonnenuntergang, sondern ist nur kurz auf einem Pferd zu sehen. Aber womöglich soll dieses Bild die mythische Überhöhung nochmals beschwören, mit der Arnaud Desplechin während seines Ausflugs ins Crime-Genre immer wieder spielt. Schon mit dem Titel: Im Schatten von Roubaix (Roubaix, une lumière) ist ein rätselhafter Film, und es ist nicht einmal klar, ob und inwiefern er einer sein möchte. Was man von ihm hält, dürfte viel mit der eigenen Haltung gegenüber der Figur des Yakoub Daoud (Roschdy Zem) zu tun haben. Der Oberkommissar in der Kleinstadt Roubaix, die eine der höchsten Armutsquoten Frankreichs hat, ist die völlig in sich ruhende, unnahbare, heroische Präsenz im Zentrum eines Films, der von seinem Setting weiß, dass hier „nur noch Elend übrig ist.“ Die Kollegen mögen im Verhör wie verrückt herumschreien, Daoud bleibt sitzen, sieht das Gegenüber mit durchdringenden Augen an, fragt, beruhigt, variiert Timbre und Nachdruck seiner Stimme, aber verliert nie die Contenance. Manchmal wirkt es, als zöge er eine seltsame Befriedigung aus seiner Arbeit. Außerdem mag er Pferderennen.
Nächtlicher Sog

„Insomniac“ wird Daoud von einer verhafteten Frau einmal genannt, und auch Desplechins Film ist schlaflos. Schlaflos, nicht ruhelos, denn hektisch oder aufgeregt sind weder Kamera noch Filmmusik. Im Schatten von Roubaix spielt während einer Weihnachtsnacht, beginnt mit den letzten Lichtern, die noch leuchten in Roubaix, dann brennt schon ein Auto, und wir sind mittendrin in der Nachtschicht, lernen Daoud kennen und seine Kollegen, allen voran Newbie Louis (Antoine Reinartz), und werden von einem Fall in den nächsten geworfen: Ein Typ behauptet, ein paar Araber hätten sein Auto angezündet, bei der Beschreibung verfängt er sich aber in unglaubwürdigen Klischees; ein Familienstreit muss aufgelöst werden, ein Mädchen ist von zu Hause abgehauen, ein Vergewaltiger geht um. Desplechins Film geht von einem Konflikt zum nächsten über, ohne groß die Übergänge zu markieren. Nichts wird etabliert, Roubaix ist eine Stadt, die zu Beginn des Films längst in Bewegung ist und es noch lange nach Ende des Films sein wird. Als nächtlicher Sog funktioniert Im Schatten von Roubaix am besten, alles scheint irgendwie gleichzeitig zu passieren, am Ende ist man tatsächlich gerädert wie nach einer Nachtschicht.
Mini-Whodunit im Theydidit

Dann aber schält sich doch ein Fall heraus: Zwei junge Frauen, gespielt von Lea Seydoux und Sara Forestier, die zusammen wohnen und wohl auch irgendwie zusammen sind, geraten in Daouds Fadenkreuz. Womöglich haben sie das Nachbarhaus in Brand gesteckt, womöglich gar die alte Frau, die in ihm wohnte, umgebracht, vielleicht im Affekt, vielleicht geplant. Ein Fall für Daoud: Was in handelsüblichen Krimis eine Zwischensequenz oder die Auflösung am Schluss wäre, wird zum Herz dieses Films. Claude und Marie werden zuerst einzeln verhört, endlos, dann zusammen. Von diversen Cops werden sie angeschrien, förmlich zum Geständnis gebrüllt, aber Daoud bleibt ruhig. Er scheint zu wissen, dass die Aufklärung nur eine Frage der Zeit ist. Wer von beiden hat gewürgt? Welche Frau wird die andere zuerst und gekonnter belasten? Das Mini-Whodunit im Theydidit bleibt bis zum Ende spannend wie ein Pferderennen, mit einem absurden Reenactment am Tatort als Photo Finish.
Noch mehr Rätselhaftes
Daoud behält die Zügel in der Hand. In einer rätselhaften Szene mansplaint er den beiden Verdächtigen ihre jeweilige Lebensgeschichte, mit einem Blick checkt er sie aus und verfolgt ihr vorgebliches Schicksal bis in die Grundschule zurück. Die Szene steht exemplarisch für den Film: Sie ist rätselhaft nicht, weil sie so inszeniert oder gespielt wäre, sondern weil man nicht greifen kann, wie der Film zu ihr steht.

Und wie steht er zur Polizei, zu Roubaix, und denen, die in seinem Elend hausen? Wir lernen keine Figur kennen, ohne dass dieser Kontakt nicht durch die Polizei vermittelt wäre. Geht es also um das bessere Verständnis der Polizeiarbeit, um das Dabeisein, um die Menschen hinter der Marke? Oder darum, dass unser Blick auf den Rand der Gesellschaft schon immer ein polizeilicher ist? Ist der Algerier Daoud, der als einziges Mitglied seiner Familie in Frankreich geblieben ist, der letzte einsame Sheriff, der noch für Ordnung sorgt in Roubaix? Oder verkörpert er eine Polizei, die, weil die strukturelle Armut sich nicht wie ein Verbrechen lösen lässt, die Hölle nur noch verwalten kann, die deshalb die Nacht von Roubaix zu ihrem Spielplatz erklärt, auf dieses oder jenes Pferd setzt und beim Verhör entspannt zuguckt, wer am Ende wohl besonders hoch verliert? Im Schatten von Roubaix ist ein rätselhafter Film, vielleicht smart in seiner Ungreifbarkeit, vielleicht aber auch einfach feige.
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