Unsere Zeit – Kritik
Mit einem raumgreifenden Beziehungsepos wagt sich Carlos Reygadas ins Innere seines Protagonisten. Unsere Zeit ist ein Exorzismus, aber die Innereien bleiben verschwommen.

In der Rockoper Tommy von The Who, in der die Geschichte eines taubstummen und blinden Flipperstars und religiösen Erlösers erzählt wird, widmete Pete Townshend lediglich ein Lied dem Innenleben seiner verschlossenen Hauptfigur. In der gesellschaftspolitischen Farce werden ansonsten eher Eindrücke wiedergegeben, die von außen auf Tommy einwirken. Kurz darauf drehte Peter Gabriel in seinem Schwanengesang als Genesis-Sänger den Spieß um und erzählte auf dem Album The Lamb Lies Down on Broadway von einem Rowdy, der eine surreale Reise durch, möglicherweise, sein Unterbewusstsein erlebt, die ihn grundlegend verändert. Die beschriebenen Ereignisse sind traumartig und transportieren eher Stimmungen als einen Plot. Mehrfach und gerade zu Beginn ist das Szenario von Momenten des Verschluckt- und Eingeschlossenwerdens bestimmt. Ganz tief in ihn hinab geht es scheinbar. Und ganz unten heißt es dann: „The carpet crawlers heed their callers / we’ve got to get in to get out.“ Damit wären wir dann auch bei Unsere Zeit (Nuesto Tiempo) angekommen, und der Spannung, die ihn antreibt.
Vor uns Klaustrophobie

In einer zentralen Szene des neuen Films von Carlos Reygadas findet eben dieses „The Carpet Crawlers“ seinen prominenten Einsatz. Esther (Natalia López, Ehefrau von Reygadas) fährt dazu im Regen nach Hause. Hinter ihr liegt Mexiko City und (Pferde-)Zureiter Phil (Phil Burgers), für den sie Gefühle entwickelt. Wie intim ihre gemeinsame Zeit bisher war, wird nie sicher geklärt. Vor ihr liegt die familiäre Farm und ihr Mann Juan (Reygadas), ein Stierzüchter und gefeierter Poet, der im Folgenden von seiner Eifersucht zerfressen wird. Zu den Klängen des Songs springt die Kamera nach gewisser Zeit unvermittelt aus dem Innenraum des Autos in dessen Motorraum. Kolben pumpen, Achsen drehen sich. Der ansonsten eher gesetzte Film begutachtet die Innereien des Gefährts und wird für einen kurzen Moment ziemlich wunderlich. Danach geht Unsere Zeit mit Esther, Juan und Phil weiter, nur das nun die Innereien ihrer Beziehungen deutlich ausladender abgesucht werden.

Hinter uns liegt eine vage Exposition, die sich erst im Nachhinein als klarer Aufbau lesen lässt. Dort dominierte noch ein schweifender Blick: Kinder spielen im See, Jugendliche lassen die Seele baumeln, wobei sich erste komplexe Gefühle einer Frau zwischen zwei Männern offenbaren, dann eine Farm, auf der Stiere gezüchtet werden und eine Feier stattfindet. Nur langsam fokussiert Unsere Zeit das, was ihn dann lange antreiben wird. Vor uns ein manierlicher Film, der das Gefühlsleben von Juan und Esther genau unter die Lupe nimmt. Hinter uns ein Film voller Weiten, vor uns Klaustrophobie. Und an der Umschaltstelle eben: „We've got to get in to get out“ – wenn sich Unsere Zeit im Folgenden ganz tief in sich vergräbt, dann soll wohl etwas durchlebt und hinter sich gebracht, etwas exorziert werden.
Kampf der Alphatiere

Das Ergebnis ist raumgreifend (die Spieldauer liegt bei knapp drei Stunden) und vor allen Dingen narzisstisch. Juan bekommt – beziehungsweise: Reygadas gibt sich – allen Platz der Welt, um einen unangenehmen Mann mit einem ausgeprägten Kontrollzwang zu spielen. Er brüstet sich damit, seiner Frau eine offene Beziehung zu bieten. Doch seine passiv-aggressive Unentspanntheit legt schnell offen, dass die ausgestellte liberale Haltung nur eine Strategie darstellt, um Kontrolle zu erlangen. Er möchte über alle Vorgänge und Gefühle Bescheid wissen, er bohrt nach und lässt niemandem Platz, und seine Penetranz unterwandert den ausgestellt milden Ton, mit dem er erklärt, dies alles sei kein Drama. Juan verschließt vor seiner Unsicherheit zwanghaft die Augen und ruft mit seinen vermeintlich woken Machtspielchen Raserei und Bitterkeit hervor.

Unsere Zeit genießt es dabei, Juan im Leeren stehen zu lassen, wie der Film es auch genießt, ihn wie ein Stehaufmännchen mit Unschuldsmine vor seine an ihm leidende Frau zu stellen. Es wird genossen, ihn bloßzustellen und ihm zugleich eine Bühne zu bieten. Ein Stier prägt diverse Plakate des Films: das Symbol, das Unsere Zeit durchzieht und Juans Ego ins Zentrum stellt. Relativ früh im Film zerreißt ein wildgewordener Stier ein Maultier in sehr expliziten Bildern, eine Szene, die, wie auch der Genesis-Song, in die Auseinandersetzung mit diesem rasenden männlichen Ego führt. Ein Kampf zwischen zwei Stieren setzt zudem den Schlusspunkt: Der Kampf der Alphatiere endet in einsamer Qual. Reygadas wird nicht müde, vor und hinter der Kamera, seine Belange und seine groß verkaufte Selbsterkenntnis in den Mittelpunkt zu stellen. In dieser Nabelschau, und im Angesicht zweier sich zunehmend verbrüdernder Machos, erscheint Esther allein gelassen.

Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb ist Unsere Zeit ein durchaus gelungener, wie nebenbei erkenntnistheoretischer Film über Beziehungen: weil die Fokussierung der Innereien nicht gelingen möchte. Aus diversen Blickwinkeln nähert sich Reygadas dem Inneren, und doch entgleitet es beständig, denn das Bild der Beziehung bleibt fragmentarisch: Der Film springt in der Zeit, ohne die Lücken einzuordnen; entscheidende Momente werden nicht gezeigt, sondern nur aus zweiter Hand und damit als Teil der unterschiedlichen Narrative und Selbstdarstellungen nachgereicht; immer wieder gibt es lange Passagen mit vorgelesenen Rechtfertigungen aus dem Off, die von den Geschehnissen recht bald Lügen gestraft werden. Wörter sind so voller Selbstbetrug – Esther versucht, Macht über die Situation zu gelangen, indem sie diese immer wieder als Chance für die Vertiefung ihrer Liebe erklärt –, und die von Weite, Überblicken und Strenge geprägten Einstellungen in ihrer augenscheinlichen Konstruktion von einer befangenen Perspektive.

Um zu unseren Alben vom Anfang zurückzukommen: Our Time porträtiert zwar die Reise eines Protagonisten durch etwas hindurch, nämlich durch eine Unsicherheit, die er mit Machismo 2.0 begegnet. Doch das Innere der Leute bleibt verschwommen, unsicher und durch ungenaue Werkzeuge vermittelt. Wir sind so nicht bei den Carpet Crawlers im Unterbewusstsein der Beteiligten, sondern eher bei Tommy, der die von Ideologien befallenen Eindrücke auf sich einprasseln fühlt, der aber kein Agent einer wirklichen Erkenntnis über Tatsächliches sein kann. Opak ist dieses in ihm weggeschlossen. Als Film über Beziehungen oder das Leben mit sich ist Unsere Zeit dergestalt äußerst fatalistisch, weil Macht über diese Dinge stets nur eine Illusion ist. Als einziger Hoffnungsschimmer bleibt, dass es mit etwas mehr Vertrauen und weniger Kontrolle vielleicht besser laufen könnte.
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