Privatbesitz – Kritik
Durch zahlreiche Plansequenzen und feste Einstellungen schafft Joachim Lafosse in seinem dritten Spielfilm Zeit und Raum für das präzise Spiel seiner Darsteller und verleiht somit dem belgischen Familiendrama Intensität und Spannung.

Kühl und dennoch verwundbar gibt Isabelle Huppert in Nue Propriété eine Mutter, die auf den Widerstand und die Verzweiflung ihrer erwachsenen Söhne stößt, als sie sich entschließt, das gemeinsam bewohnte Kindheitshaus zu verkaufen, um mit ihrem Liebhaber ein neues Leben zu beginnen.
Natürlich liegt das Motiv intensiver Mutter-Kind-Beziehungen bereits tief verankert in der Filmografie der Huppert. Man erinnere sich an ihre Verkörperung der gequälten Erika Kohut, die in Michael Hanekes Die Klavierspielerin (La Pianiste, 2001) noch im fortgeschrittenen Alter das Bett mit der Mutter teilt. Oder gar an das inzestuöse Verhältnis, das sie in Meine Mutter (Ma mère, 2004) von Christophe Honoré zu ihrem Sohn aufbaut. Regisseur Joachim Lafosse schreckt nicht davor zurück, sich der imaginären Leinwandpersona der Huppert frei zu bedienen, die durch diese Filme im Geiste der Zuschauer entstanden ist. Zwar überschreiten die Figuren bei ihm keine gesellschaftlichen Verhaltensgrenzen, doch misst auch er der großen Intimität zwischen Mutter und Söhnen eine besondere Bedeutung bei. Körperliche Vertrautheit fängt die Kamera dabei genauso geschickt ein wie die zunehmende Distanz, die sich allmählich zwischen der Mutter und einem ihrer Söhne, aber auch zwischen den Geschwistern untereinander ausbreitet.

Als Pascale den beiden ihren Liebhaber Jan (Kris Cuppens) vorstellt und dieser auch noch Stellung zu ihren Verkaufsplänen und Unabhängigkeitswünschen bezieht, eskaliert die Situation, und Pascale muss zu einer Freundin ziehen, um den Spannungen in ihrem eigenen Haus zu entkommen. Überrascht und entrüstet müssen die erwachsenen Brüder also die nächsten Tage ohne die Mutter auf dem abgelegenen Landhaus verbringen – und spätestens da wird klar, was für bemerkenswerte Mitspieler Lafosse hier Isabelle Huppert zur Seite gestellt hat.
Die brüderliche Beziehung der Jungen versucht der Regisseur eher durch Beobachtung als durch Inszenierung einzufangen, da beide Darsteller auch im wahren Leben Geschwister sind. Mehr als eine bewusste Entscheidung preist Lafosse diese Besetzung gar als Teil seines Konzepts an. Bereits im Stadium des Drehbuchschreibens involvierte er die beiden Brüder, Jérémie und Yannick Renier, in sein filmisches Vorhaben. Die ausdrucksstarke Spielkunst des Ersten wurde der internationalen Öffentlichkeit bereits durch L’enfant, den 2005 mit der Goldenen Palme ausgezeichneten Film der Dardenne-Brüder, offenbart. Nun stellt Jérémie Renier im Zusammenspiel mit seinem älteren, unerfahreneren, aber ebenso überzeugenden Bruder unter Beweis, welch unerwartete Wirkung selbst von der banalsten Szene ausgehen kann.

Der fast schon dokumentarische Ausdruck der drei Hauptdarsteller lässt sich nicht zuletzt auf die Erzählform zurückführen, die Joachim Lafosse für sein Drama gewählt hat: Konsequent erzählt er seine Geschichte zum größten Teil in extrem langen Einstellungen, häufig auch Plansequenzen, die auf betonte Kamerabewegungen völlig verzichten. In den dabei entstehenden tableauartigen Szenen illustriert er, wie die Harmonie der unterschiedlichen Paare stets durch die Ankunft eines Dritten im Bilde aufgehoben und zerstört wird. Völlig unreflektiert, fast schon unschuldig, verhalten sich nämlich auch Mutter und Kinder hier eindeutig wie in einer Liebesbeziehung – und können deshalb als Dreiecksgespann nur bedingt funktionieren: Immer häufiger und heftiger greift Thierry (Jérémie Renier) die Mutter an, während der sanftere François (Yannick Renier) zunehmend in die Rolle des Beschützers schlüpft und Verständnis für die Bedürfnisse der Mutter aufbringen möchte. Als diese schließlich das Haus verlässt, bleiben die Geschwister mit ihrem Frust und ihren Aggressionen alleine zurück – und können diese fortan nur noch am jeweils anderen auslassen.

Durch seine behutsame Erzählweise und die Komplexität der Figuren gelingt es dem Filmemacher, die Konflikte, die im Laufe des Films durch den Unabhängigkeitswunsch der alleinerziehenden Mutter freigesetzt werden, nicht auf die herkömmlichen Klischees zu reduzieren. So ungerecht und egoistisch sie auch teilweise erscheinen mögen, bleiben die Beweggründe aller Figuren für den Zuschauer stets nachvollziehbar. Auch das Verhalten der anderen Männer in Pascales Leben, des Ex-Manns und Vaters ihrer Söhne (Patrick Descamps) sowie des zunächst geheimen Liebhabers, verurteilt der Film nicht. In Nue Propriété wird nicht versucht herauszufinden, wer für den Zustand dieser zerrüttenden Existenzen verantwortlich gemacht werden muss, sondern lediglich in aller Ruhe beobachtet, wie sich ihre Situation allmählich zuspitzt und unweigerlich zu einer Katastrophe führt.
Neue Kritiken

Mein 20. Jahrhundert

Caught Stealing

Wenn der Herbst naht

In die Sonne schauen
Bilder zu „Privatbesitz“




zur Galerie (8 Bilder)
Neue Trailer
Kommentare
Es gibt bisher noch keine Kommentare.