Nostalgia – Kritik
Nach 40 Jahren kehrt Felice ins heruntergekommene Neapel zurück und verliert sich trotz lauernder Camorra-Gefahr in Nostalgie. Mario Martones Film lässt uns mitschwelgen, aber nicht ohne Hintersinn.

In den ersten Minuten sehen wir Felices Flugzeug aus Kairo im Landeanflug, dann ihn aus dem Taxifenster schauend, dann auf einer Aussichtsplattform die Stadt überblickend. Alles ohne Dialog und Musik. Nur der Lärm der Flugzeugdüsen und das Rauschen der aufgewirbelten Luft, die Motorgeräusche und das Hupen von den Straßen, das leise, unverständliche Geplapper der Leute. Die Bilder ruhen dabei lange, geben Felice (Pierfrancesco Favino) und uns Raum zum Atmen. Es sind traumhaft-schöne Aufnahmen, die ein etwas heruntergekommenes, aber sonnendurchflutetes Neapel zeigen. Als er sich nach der Ankunft im Hotel schließlich auf den Weg zu seiner Mutter (Aurora Quattrocchi) macht und gemütlich durch die Straßen des Viertels schlendert, setzt der zurückhaltende Score ein. Doch das laute Klacken von Felices Schuhsohlen auf dem Asphalt löst ihn zügig wieder ab. Nichts soll die Stimmung, die die puren Aufnahmen der Stadt vermitteln, zu sehr verfälschen.
Utopisches Potenzial

Seine Mutter wird er an diesem Abend nicht mehr sehen. Als er am Haus ankommt, verschafft er sich neugierig einen Überblick, doch schließlich kehrt er um, als wage er sich noch nicht hinein. Zurück zum Hotel, eine rauchen. Erst am nächsten Tag stattet er ihr den lange herbeigesehnten Besuch ab. Als er dort seine alte Lederjacke im Kleiderschrank sieht, schließt er die Türen hastig wieder, will sich offenbar noch wehren gegen die Erinnerungen, gegen die Rückwärtsgewandtheit. Doch dann steckt er sich ein Foto, das ihn mit Jugendfreund Oreste (Tommaso Ragno) auf einem roten Motorrad zeigt, ins Portemonnaie. Den Spiegel im Hotel hängt er ab, stattdessen pinnt er eine Stadtkarte an die Wand – die Reflexion weicht der Sehnsucht, das Spiegelbild der Heimat, das Jetzt der Vergangenheit. Schon bald fährt er mit dem neu gekauften Zweirad die Straßen ab, durch die er bereits als Jugendlicher gerast ist.
„Alles gleich geblieben“, meint er einmal zu dem Ort, an den er nach 40 Jahren zurückgekehrt ist. Da weiß er noch nicht, dass Oreste in dem Stadtviertel Sanità mittlerweile zum Oberhaupt eines Camorra-Clans „aufgestiegen“ ist. Spätestens als seine Mutter, kurz nachdem er ihr eine neue, schönere Wohnung gekauft hat, stirbt, steht der Entschluss: Er bleibt hier. Trotz der offenen Drohungen, die er jetzt von Orestes Handlangern bekommt. Trotz des Drive-bys, dessen Zeuge er wird. Er freundet sich mit dem aufmüpfigen Priester Don Luigi (Francesco Di Leva) an, der den Jugendlichen eine Perspektive abseits der Kriminalität bieten möchte.

Hier wird klar, dass sich Felices Nostalgie nicht, wie es zunächst schien, auf eine bestimmte Zeit bezieht. Er möchte nur endlich wieder dort ankommen, wo er sich heimisch fühlt. An der Vergangenheit ist er weniger interessiert, sein Blick richtet sich nach vorne. Die Nostalgie ist für Felice also nicht so sehr Verklärung der Vergangenheit, sondern entwickelt gar ein gewisses utopisches Potenzial. Das Heimatgefühl, zwar auch geweckt durch geschönte Erinnerungen, wird zum Auftrag, eben diesen Ort zu verbessern.
Verdiente Naivität
„Die Erkenntnis liegt in der Nostalgie. Wer nichts verloren hat, besitzt sie nicht.“ Mit diesem etwas kryptischen Zitat von Pier Paolo Pasolini beginnt der Film. Felice merkt zögerlich, was er verloren hat: die Bindung zu Familie und Freunden, Teile seiner Muttersprache, der Kultur, in der er aufgewachsen ist. Und die Erkenntnis könnte für ihn bald noch einen viel größeren Verlust bedeuten. Der Besuch des Cimitero delle Fontanelle, des unterirdischen Friedhofs in Sanità mit all seinen Totenschädeln, auf dem vor allen Pestopfer liegen, kündigt bereits Unheilvolles an.

Das Hintersinnige von Nostalgia, basierend auf dem gleichnamigen Roman von Ermanno Rea, liegt in seiner oberflächlichen Schönheit, mit der die lauernden Gefahren kontrastiert werden. Wir sehen die Spitzel der Camorra, die Gewalt, die Perspektivlosigkeit. Doch wir verlieren uns mit Felice nur allzu gern im sommerlichen Flair Neapels, lassen ihn an unserer statt durch die Gassen mäandern, treffen mit ihm offenherzige Menschen. Martone gelingt es sehr gut, diese Naivität auf uns zu übertragen, sie fühlt sich verdient an. Das Ende ist dabei nur konsequent, könnte ein Schlag in die Magengrube sein – doch wir behalten lieber das wohlige Gefühl im Bauch, das uns durch die strahlenden Bilder und die betont ruhige Inszenierung förmlich aufgedrängt wurde.
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Kommentare
Mad
Die einzige gute Kritik zu diesem Film, die ich in Deutschland gelesen habe
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