Nomadland – Kritik
Die kleinen Momente des Glücks: allein mit dem Wohnmobil durch die Weiten der USA, ungebunden sein, bei Amazon arbeiten. Nomadland versteht den amerikanischen Traum.

Nomadland ist ein seltsamer Film, ein seltenes Erlebnis, gleichzeitig typisch und untypisch für das amerikanische Kino. Er ist das Ergebnis einer Kollaboration, wie sie durchaus üblich ist in den USA: Eine begabte Regisseurin wird gewonnen für eine Buchadaption, produziert von einem Hollywoodstar. Die eine heißt in diesem Fall Chloé Zhao und hat fantastische Filme mit Laien gedreht, die andere Frances McDormand, die als Schauspielerin ihre Karriere nicht zuletzt mit eigenwilligen, kauzigen Rollen gemacht hat. Die Regisseurin und einige ihrer engsten künstlerischen Vertrauten bringen ihre Methoden ein, McDormand produziert, setzt sich ein mit ihren Verbindungen und im Film mit ihrer Präsenz. Gemeinsam schaffen sie etwas Neues: einen Film reich an Impulsen des Dokumentarischen, des Improvisierten und des Humanistischen – zugleich durchdrungen von einer romantischen Ader. Die gegensätzlichen Stoßrichtungen machen den Reiz des Films aus und erklären auch seinen phänomenalen Erfolg.
Der eigenen Lebensform ein Gesicht geben

Frances McDormands Spiel in Nomadland ist zurückgenommen wie selten. Fern, so heißt ihre Rolle, spricht nicht viel. Wenn sie spricht, dann mit großer Klarheit, mit dem Wissen, dass sie fragen muss, wenn sie etwas will. Fern lebt in einem kleinen zum Wohnmobil umgebauten Auto, sie ist Witwe, und zieht von einem saisonalen Job zum nächsten. Gleich zu Beginn des Films steht das jährliche Highlight, das Feiertagsgeschäft in einem Amazon-Warenlager. Es ist in jeder Hinsicht bezeichnend, dass die Arbeit bei Amazon, über die schon so viele schauerliche Berichte zu lesen waren, für Fern ein Moment größeren Glücks ist: Der Arbeitgeber zahlt den Stellplatz fürs Wohnmobil, zahlt überhaupt besser als andere und bietet für einen kurzen Augenblick einen fröhlichen Zusammenhalt der kurzzeitig Angestellten. Abrupt findet die Zeit dort ein Ende, eine Verlängerung des Stellplatzes wäre teuer, Fern muss weiterziehen. Das wird ein wiederkehrendes Motiv.

Im Buch der Journalistin Jessica Bruder gibt es die Rolle von Fern nicht, sie steht eher stellvertretend für viele ältere Menschen in den USA, die im Zuge der Wirtschaftskrise von 2008 ihre Jobs verloren und zu Wanderarbeitern wurden. Die drei Protagonist*innen von Bruders Recherchen hingegen, Linda May, Swankie und Bob Wells, treten als sie selbst auf. Das Aufeinandertreffen der Schauspielerin McDormand mit Menschen, die sich selbst spielen, die ihrer eigenen Lebensform ein Gesicht geben, geschieht beiläufig – aber nicht unmerklich. Es sind zwei Ideen von Kino und von Schauspiel, die sich begegnen. Die Schauspielerin übersetzt eine Geschichte in eine Rolle in einen Film, die Laien erinnern im Spiel einen Alltag. Chloé Zhao und Frances McDormand haben für dieses Nebeneinander unterschiedlicher körperlicher Gegenwart einen überzeugenden Ansatz gefunden, in dem sich die Schauspielerin als Resonanzraum anbietet. Zwar steht sie mit ihrer fiktiven Geschichte im Mittelpunkt, aber ihre Präsenz ist eine der Reaktion, des Echos und der Empathie.
Zwischen narrativen Zuspitzungen und Beiläufigkeit

Nomadland ist ein Film des Driftens, der Ziellosigkeit, des Überlebens, vor allem aber der melancholischen Erinnerung. Die Geschichte ist episodisch wie im klassischen Roadmovie, aber kein Stationendrama. Fortschritt gibt es kaum, Konflikte ganz wenige. Die kurzzeitigen Jobs sind nebensächlich, die Arbeitsbedingungen größtenteils ausgeblendet. Zwei Story-Elemente zur Dramatisierung birgt das Drehbuch von Zhao: Das kleinere davon ist, dass das Wohnmobil irgendwann in die Reparatur muss, die sich Fern nicht leisten kann. Anlass für einen Abstecher zu ihrer Schwester, deren Leben gleichzeitig als Kontrast und als Zerrbild einer bürgerlichen Existenz angelegt ist. Das zweite Element ist die wiederholte Begegnung mit einem älteren Mann, gespielt von David Strathairn, der gern mehr Zeit mit Fern verbringen würde. Zhao nutzt diesen Erzählstrang als Motor für ein paar der Episoden. Weil es in Nomadland ohnehin eine fragile Angelegenheit ist, die Balance zwischen Driften, Beobachten und Erzählen zu halten, kommt der Geschichte einer möglichen neuen Liebe im dritten Lebensabschnitt eine besonders brisante Rolle zu. Doch Zhao navigiert geschickt zwischen narrativen Zuspitzungen und Beiläufigkeit – ohne der Verlockung zu erliegen, inmitten einer Geschichte über das Alleinsein die Perspektive auf eine neue familiäre Struktur zu zentral werden zu lassen.

Im Mittelpunkt steht ohnehin das Individuum und sein Verhältnis zur Weite, „the great outdoors“: die USA als Land, in dem Freiheit gleichbedeutend ist mit der autarken Besiedelung von mehr oder minder verlassenen Gegenden. Die politischen Implikationen dieser Ideologie, die in der Regeln Einschränkungen sind und nach denen jeder am besten für sich selbst sorgt, gehören eher unterschwellig zum Interesse des Films. Ihn inmitten eines Lockdowns zu sehen setzt auch deshalb bizarre Effekte frei. Weil ein Leben der freien, unregulierten Bewegung so fern scheint. Und weil organisierter Verzicht zum Schutz der Schwächsten von liberaler Seite gerade so vehement angegriffen wird. Nomadland hat in dieser Hinsicht weniger einen blinden Fleck, als dass der Film genau weiß, dass er anschlussfähiger ist, indem er politische Fragen nur antriggert, ohne sich zu positionieren.
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Kommentare
Hans von Socken
Man hätte Nomadland eigentlich auch gleich als echten Dokumentarfilm drehen können, denn dann wäre er womöglich authentischer und glaubwürdiger rübergekommen. Wozu eine fiktive Erzählebene darüberlegen, wenn die Laiendarsteller doch ohnehin genug zu erzählen haben? Mir sind die aneinandergereihten Episoden teilweise zu harmlos und zuckrig geraten, lauter lieblich-zarte Begegnungen meist alter Menschen. Die echten gesellschaftlichen Konflikte sind geflissentlich ausgeblendet worden, das Nomadenleben wird weitgehend als harmlos, putzig und idyllisch verbrämt. Wo sind die wirklichen Brüche der Menschen erkennbar, die da - oft unfreiwillig - auf Trebe sind? Wo der Alkoholismus, die Drogen-/Fentanylkrise, wo die schmerzhaften und unaufgelösten Konflikte mit Eltern, Geschwistern, Arbeitgebern, Herkunftsumfeld?
Die Protagonistin Fern besucht ihre jüngere Schwester, die sich beklagt, dass Fern nicht für sie da ist. Dabei führt sie doch ein sicheres Leben in Wohlstand. Und was macht Fern? Bekennt sich einfach „schuldig“, um den Konflikt mit ihrer Schwester zu vermeiden, denn sie braucht deren Geld. Welch vertane Chance, der jüngeren Schwester einen Spiegel vorzuhalten, die doch eigentlich nur die Ältere um ihren Mut, ihre Freiheit und Ungebundenheit beneidet.
Hier wird eine Idylle aus der Sicht zweier Frauen (Regisseurin und Hauptdarstellerin) ausgebreitet, die alles an unangenehmen Begleiterscheinungen der US-amerikanischen Dystopie ausblendet: (Waffen-)Gewalt, sexualisierte Brutalität, Verwahrlosung, religiöser Fanatismus, patriotisch-politische Engstirnigkeit, kulturlose Sinnleere, entgrenzter Konsumismus, epidemisches Morden und Selbstmord. Und all das ist eben auch - und ganz besonders - unter den entwurzelten, oft mäßig gebildeten, vagabundierenden PickUp-Trailer-Nomaden bitterste Realität.
Aber vielleicht werden solche gütig-pittoresken Leinwandmärchen derzeit dringend gebraucht, um die unfassbare Zersetzung der amerikanischen Gesellschaft für einen (Kino-)Moment etwas erträglicher zu machen.
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