Nina Wu – Kritik
VoD: Weinstein in Taiwan. In seiner bislang ambitioniertesten Regiearbeit zeichnet Midi Z ein desillusionierendes Bild vom Filmbusiness. Nina Wus Weg vom Webcam-Girl zum Filmstar ist nur auf den ersten Blick ein sozialer Aufstieg.

Am Anfang ist Nina ganz bei sich: Die junge Frau (Wu Ke-Xi) läuft durch ihre Wohnung, kocht, guckt ernst, lächelt nicht. Wozu auch? In diesen ersten Minuten muss Nina niemandem gefallen, niemandem imponieren, sie existiert einfach nur für sich. Dann klingelt der Wecker, Nina zieht das Schlabber-Shirt aus, zwängt sich in ein Korsett, beginnt sich zu schminken – immer noch keine Emotionen im Antlitz. Sie knipst die Webcam an und setzt gleichzeitig ihr schönstes Lächeln auf. Das geht von 0 auf 100: Plötzlich strahlen ihre Augen, ihre Lider flattern, die Wangen schwellen an, die Mundwinkel heben sich. Dieses warme Lächeln wirkt authentisch und ist doch komplett gestellt – ein perfekt vorgetäuschter Endorphin-Orgasmus.
Zwischen Schauspiel und Prostitution

Der taiwanesische Regisseur Midi Z verfolgt in seinem bislang ambitioniertesten Film Nina Wu (Juo ren mi mi, 2019) den Weg einer jungen Frau vom Webcam-Girl zum Filmstar. Das mag wie die Geschichte eines sozialen Aufstiegs klingen, ist aber tatsächlich ein desillusionierender Blick auf den hohen Preis, den manche junge Frau für den Erfolg im Film-Business zahlen muss. Denn in einem Punkt ändert sich Ninas Alltag kaum: Sowohl das Cam-Girl-Dasein als auch das Leben als gefeierte Schauspielerin vermischen Kunst und Sex, Performance und Prostitution.

Die Nacktszene, über die sie sich anfangs sorgt, entpuppt sich dabei noch als das kleinste Übel. Doch schon hier wird sie zum bloßen Objekt degradiert – zum Spielball männlicher Fantasien und Entscheidungen. Ninas Agent wischt ihre Bedenken einfach mit etwas psychologischem Druck weg: „Lass uns schauen, ob es nur darum geht, nackte Haut zu zeigen oder ob das Drehbuch die Szene erforderlich macht. In Hollywood würde aber niemand eine Rolle wegen einer Nacktszene ablehnen.“

Bei den Dreharbeiten entpuppt sich der Regisseur als handgreiflicher Tyrann und die Nacktszene als Dreier (von dem Midi Z nur eine urkomische Trockenübung zeigt). So richtig beklemmend wird es aber erst, als auch der Produzent ins Spiel kommt, ein taiwanesischer Harvey Weinstein. Die von ihm ausgelösten Schlüsselszenen erinnern teils an Gaspar Noés Irréversible (2002) und teils an Pier Paolo Pasolinis Die 120 Tage von Sodom (Salò o le 120 giornate di Sodoma, 1975). Midi Z gelingt es dabei, die psychologische Ebene – die Unterwerfung und Demütigung von Frauen durch Männer und die (nicht nur passive) Kollaboration der Opfer – noch verstörender wirken zu lassen als die Gewalt an sich.
Traum erfüllt, Träume zerstört

Sowohl das Thema von Nina Wu als auch seine visuelle Umsetzung stellen einen überraschenden Sprung in der Filmografie von Midi Z dar: Der ursprünglich aus Myanmar stammende Regisseur hatte sich bislang in fast all seinen Werken mit burmesischen Migranten befasst, oft dokumentarisch oder trocken-sozialrealistisch, etwa in Ice Poison (2014). Auf ästhetische Schnörkel hatte er weitgehend verzichtet.

Nina Wu hingegen ist durchtränkt von rotem Kunstlicht – eine weitere Parallele zu Noés Irréversible. Komplementär dazu sehen wir in einer anderen Szene, in der Nina plötzlich aufschreckt und der Kamera ganz nah kommt, wie eine grün fluoreszierende, flüssige Beauty-Maske von ihrem Gesicht tropft. Und wann immer traumatische Erinnerungen und bedrohliche Einbildungen für Nina ununterscheidbar werden, dringen surrealistische Elemente in den Film: Hier kriecht eine Eidechse über einen Lampenschirm, dort krabbelt ein Insekt auf Ninas Hand herum und immer wieder verfolgt eine mysteriöse Fremde die Protagonistin. Diese Szenen unterlegt Midi Z gerne mit nervösen, dissonanten Klängen – von Industrial Sounds über Türquietschen bis hin zu schwerer Darth-Vader-Atmung.
Am häufigsten zu sehen und zu hören ist jedoch eine eindringliche Szene, die Nina fürs Casting probt und wiederholt vorspielt. Diese Szene fasst auch ihre Erfahrungen als Neuling im Film-Business zusammen – Erfahrungen, die gleichzeitig einen Traum erfüllen und Träume zerstören. Nina blickt dabei mitunter direkt in die Kamera und sagt: „Sie nehmen mir nicht nur meinen Körper. Sie nehmen mir auch meine Seele.“
Der Film steht bis 29.12.2024 in der Arte-Mediathek.
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