Niemand ist bei den Kälbern – Kritik
VoD: Pinkeln und Träumen. In Sabrina Sarabis Romanverfilmung Niemand ist bei den Kälbern wirft sich eine junge Frau für eine Welt jenseits der Provinz in Schale, die Wille und Vorstellung bleibt.

„Warum ziehst du dich so an, du gehst doch gar nicht in die Stadt.“ Ein trister Satz in einem Film voller trister Sätze, wie viele andere ist er an Christin (Saskia Rosendahl) gerichtet. Böse gemeint, bringt er die Sache mit Christin in Sabrina Sarabis Niemand ist bei den Kälbern dennoch auf den Punkt: Allein in ihren Klamotten ist das Begehren nach einem Mehr aufgehoben, das überall um sie herum im Keim erstickt wird. Der abgeschnittene Jeansrock, die knappen Oberteile, die großen Ohrringe: Ersatz-Freiheiten, wie die Flasche tröstender Kirschlikör, den sie stets dabei hat.
Träume sind schon wichtig

Christin wirft sich in Schale für ein Leben, das sie nicht führt. Ihr tatsächliches Leben in der mecklenburgischen Provinz bietet neben der Arbeit auf dem Milchviehhof des Vaters ihres Freundes Jan (die konkreten Tätigkeiten interessieren den Film zum Glück so wenig wie Christin) nur gelegentliche Scheunen-Partys, die jäh unterbrochen werden können, wenn der eigene Säufervater mal wieder nicht von allein nach Hause kommt. Die beste Freundin verschwindet mal eben von der Bildfläche, und Jan (Rick Okon) selbst kann die eigene Überarbeitung, die Eifersucht, und was da noch alles an Wut, Bitterkeit und verletztem Männerstolz hinter der Arbeiterlatzhose stecken mag, in nichts anderes überführen als in leise Zusammen- und laute Gewaltausbrüche.

„Wovon träumst’n du?“ Noch ein Satz, der sich an Christin richtet, den sie aber nicht so leicht ausblenden kann wie die Alltagsverachtung des Milchbauern. Es spricht ihn Klaus (Godehard Giese), Techniker aus Hamburg. Klaus bringt buchstäblich frischen Wind in Christins Leben, repariert er doch die sabotierten Windanlagen in der Nähe des Hofes. Beschreibt der Kommentar zu ihrem Outfit die Ausgangssituation von Niemand ist bei den Kälbern, so steckt in Klaus’ Frage der ganze Rest des Films. Christin kann mit dieser Frage zugleich nichts und alles anfangen. „Ist doch egal“, bricht sie ihre Antwortversuche schließlich ab. „Ist schon wichtig“, sagt Klaus.
Langeweile unter Strom

Niemand ist bei den Kälbern ist ein Film, der bekannte Motive wie die stumme Gewalt der Provinz, bekannte Figuren wie die heranwachsende Verführerin, bekannte Filmgenres wie Western und Coming of Age und manchmal auch ein paar nicht nur bekannte, sondern etwas allzu gängig gewordene Erzählklischees (dass Christin am Ende nicht vollständig gewinnt oder verliert, sondern in eine ungewisse Zukunft fährt, spricht aus jeder Szene) variiert und dabei zumeist etwas durchaus Aufregendes mit ihnen anstellt. Das Drama des Westerns: Die Sache mit Recht und Ordnung ist längst geklärt, es wird auch keine Eisenbahn mehr gebaut. Das Drama des Coming of Age: Christin ist bereits 24, die Rolle der heranwachsenden Verführerin spielt sie, weil sie nur so dem Alltag noch ein bisschen Leben abtrotzen kann: mit Klaus, dem Städter, im Stall, zweimal, dann muss der mit der Familie in den Urlaub.

Die ausagierten Abenteuer haben dabei etwas genauso Tristes an sich wie der banale Alltag. Dreimal sehen wir Christin pinkeln, einmal beginnt sie zu masturbieren, nur um gelangweilt abzubrechen. Saskia Rosendahl, die in Locarno verdientermaßen mit dem Darstellerinnenpreis ausgezeichnet wurde, gelingt es, die lebensbedrohliche Langeweile sowie die Trost-, Hoffnungs- und Ratlosigkeit ihrer Figur so unter Strom zu stellen, dass die stumme Gewalt der Provinz nicht behauptet bleibt, sondern sich des Körpers bemächtigt. Christin ist eine unheimliche Figur: unberechenbar, und doch völlig transparent; stuck, und doch ständig in Bewegung; emanzipiert, und doch vollkommen abhängig, Spielball der auf je eigene Art kaputten Männer, auch wenn sie sich stets selbst im Spiel hält.

Niemand ist bei den Kälbern basiert auf dem autobiografischen Roman von Alina Herbing, und auch ohne Kenntnis des Romans lässt sich ahnen, dass Sarabi in ihrem zweiten Film nach Prélude um Reduktion bemüht war, möglichst viel von dem in Bilder gießen wollte, was im Buch sehr viel ausführlicher erzählt sein dürfte. Diese Reduktion gelingt ihr nicht zuletzt am Anfang des Films hervorragend. Denn bevor der schöne Titel auf der Leinwand steht, hat Niemand ist bei den Kälbern schon einen längeren Prolog hinter sich: Christin lässt sich darin von Klaus nach Hamburg fahren, nicht weil sie dorthin, nur weil sie weg von Jan und seinem stehengebliebenen Traktor will. Absetzen lässt sie sich schließlich auf einem Parkplatz, auf dem sie einen Bekannten weiß, der sie wieder zurückfahren kann. Das Ziel ist der Weg – zurück. Darin steckt der ganze Film: ein Traum von Flucht als Bumerang.
Der Film steht bis zum 03.12.2023 in der ARD-Mediathek.
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