Needle Boy – Kritik
Stell dir vor, du läufst Amok und alle sind schon tot. Wo Gus van Sants Elephant mögliche Gründe für das Unsagbare lieferte, zeichnet Needle Boy das Porträt eines von Überdruss und Verachtung bestimmten Lebens. Eine neue Wunschkritik unserer Abonnenten.

Nick (Nicklas Søderberg Lundstrø) lädt seine Pistole. Er geht zur Uni, wo er durch sonderbar leere Gänge von einem leeren Raum zum nächsten irrt. Schließlich findet er im Hof Trauernde. Bevor er richtig weiß, was los ist, wird er in den Arm genommen. Nick hatte die angesetzte Exkursion vergessen und ist deshalb einem tragischen Unfall entgangen, der alle Beteiligten ertrinken lies. Was folgt und Needle Boy ausmachen wird, ist ein durch Frust bestimmtes Irren (vornehmlich) durch die Nacht, von jemanden der sein Ziel beziehungsweise sein Ventil verloren hat.
Zustand des Ahnens

Needle Boy setzt sich dabei durch einzelne Situationen zusammen, die für sich klar sind. Aber selbst basale Dinge bleiben in ihnen unausgesprochen. Das Laden der Waffe vor dem Gang zur Uni, das Fokussieren der bisher unnütz gebliebenen Pistole am Bruchpunkt einer bis dahin intimen Szene, die latente Aggression Nicks: Es schmeckt und riecht nach Amoklauf, es drängt sich auf. Die Sicherheit über die Intentionen Nicks werden aber vorenthalten. Stattdessen herrscht ein Zustand des Ahnens vor. In einer Discoszene setzt Nick sich mit Bekannten auseinander, die vor Nässe ständig tropfen und die davon erzählen, dass sie tot sind. Dem Fantastischen der Situation – er hat es wohl mit seinen verhinderten Opfern zu tun – stehen die Wunden entgegen, die er aus der Situation davonträgt und die er bis zum Ende des Films mit sich herumträgt. Die Unsicherheit ist von einer kartesischen Qualität, in der es nur die Wahrheit der Eindrücke gibt.

Das stets zum Vagen Strebende entspricht durchaus der Persönlichkeit Nicks, die sich gerne versteckt, vor allem wird dadurch aber die nicht durchgeführte Tat ihrer Rationalisierung beraubt. So wenig es die Sicherheit über die potenzielle Tat gibt, so wenig gibt es eben Traktate zu dieser. Nick wird nicht durch Politik, Sexualität, Xenophobie oder ähnliches gekennzeichnet. Lediglich auf sein unmittelbares Umfeld reagiert er und über dieses greift der Film auch nicht hinaus. Wen er getötet hätte, das ist ein sekundäres Merkmal der Tat und als solches völlig unsichtbar. Da wo Gus van Sants thematisch ähnlich gelagerter Elephant (2003) ein Panoptikum aller möglichen Gründe für das Unsagbare lieferte, da bleibt Needle Boy ausschließlich bei seiner Hauptfigur und liefert nur das Porträt eines von Überdruss und Verachtung bestimmten Lebens.
Die Geräusche der Dinge

Die Kamera lässt dabei ihren Blick schweifen, und der Rhythmus des Films verwehrt sich einer Dramatisierung oder Verdichtung. Das sich ergebende Psychogramm eines Leidenden/Wütenden liegt aber wie Blei auf allem. Dass sich der Film größtenteils treiben lässt, ist weniger Zeichen seiner Offenheit als der diffus gewordenen Bitterkeit Nicks. Ob er nun bei seiner Freundin ist, bei seiner Familie, beim Einkaufen, in einer Kneipe, in der Disco usw., er steht vor sozialen Situationen wie vor einem Schaufenster. Er kann zugucken, aber teilhaben kann er nicht. Wenn er Einzelne herausgreift und verbal mit Hass und Verachtung überschüttet, dann sind das wohl Versuche, diese Scheibe zu zerstören. Es ist aber die Trennung, die sich dadurch vertieft.

Dem dranglosen Fließen von Needle Boy steht aber auch etwas Anderes entgegen, etwas latent Bohrendes. Gesichter, vor allem das von Nick, und Körper werden ganz genau angeschaut, der Sex ist zwangsläufig explizit, und das Tondesign ist zumeist von Überreizung bestimmt. Ob es die sich überlagernde Musik aus den Kopfhörern der Anderen im Bus ist oder das Küchenkrepp, dass sich Nicks Freundin immer wieder durch den Schritt zieht, um die postkoitalen Rückstände zu entfernen: Die Geräusche der Dinge oder ihr Fehlen drängen sich förmlich auf und arbeiten an den Nerven. Der Ablauf ändert sich dabei kaum. Orientierungslosigkeit baut so Spannung auf, die sich in Beschimpfungen entlädt. Needle Boy verfolgt Nick durch einen Pfad von intimen Situationen, die er als Bühne für meist nur verbale Angriffe und Bloßstellungen nutzt.
Ein blinder Fleck

All das läuft in der Physis von Nicklas Søderberg Lundstrøm zusammen. Seine dünnen, nach hinten gegelten Haare, die bleiche Haut, die knochigen Wangen, der stechende Blick und vor allem die dicken, dunklen Augenringe: Die Oberfläche Nicks ist die naheliegende Entsprechung seines Verhaltens. Trotz aller Angebote von Ambivalenz und selbstauferlegter Vagheit offenbart sich in dieser Ineinssetzung von Inhalt und Oberfläche die Redundanz, die Needle Boy größtenteils ausmacht. Hinter groß gesetzten Lücken versteckt sich, dass im Grunde alles offen auf dem Tisch liegt. Was heißt: Wir dürfen einen Leidenden begleiten, der seinen Problemen nicht in die Augen blicken möchte und sie stattdessen auf andere abwälzt. Dort, wo der Täter sich für ein Opfer hält, wo der Film über das abstrakte Bild eines Amokläufers an sich hinausgehen könnte, da steht nur Schweigen und Mauern. Es ist ein blinder Fleck, dem sich weder Nick noch Needle Boy widmet.

Es gibt gegen Ende eine Insel der Entspannung, auf der Nick einen zweisamen Moment erlebt. Seine Verzweiflung wird daraufhin verletzlicher. Dann ist da aber auch ein Finale, das als Verquickung von käuflicher Liebe und Abreaktion gelesen werden kann. So oder so verfolgen beide Situationen den eingeschlagenen Weg, wehren sich dagegen, dem Absurden oder Schmerzhaften der zugrundeliegenden Fragestellung überhaupt ins Gesicht zu sehen. Stattdessen verbleibt alles eben immer und immer wieder im anmaßend bleibenden Leiden eines jungen Mannes.
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