Nebenan – Kritik
Berlinale Summer Special 2021: Hauptsache mal klare Kante zeigen. Daniel Brühls Regie-Debüt Nebenan lässt gegensätzliche Berliner Gentifizierungsdynamiken aufeinander los und funktioniert vor allem gut für Daniel Brühl.

Fast wie ein Heiliger, der auf die Erde hinabsteigt, sinkt Star-Schauspieler Daniel (Daniel Brühl) im Fahrstuhl herunter auf den Innenhof seiner Maisonette-Wohnung im Prenzlauer Berg. Schicker, in Treppen und Armaturen gegossener Beton oben, aufgerissener Beton unten. Oben kann seine Frau (Aenne Schwarz) noch ziemlich verschlafen im Bett liegen, kann Daniel seinen heutigen Casting-Termin in London besprechen, vorher noch Sport mit Fernsehturm-Panorama machen und die Kinder frei durch die großräumige Wohnung tollen lassen, weil die spanischsprachige Nanny Conchita sich um alles kümmert. Weiter unten, im dritten Stock, muss sich ein anderes Paar im Sommer gemeinsam durch das enge Fenster quetschen, um ein bisschen Luft abzubekommen und den Ausblick auf die nächste Hauswand zu „genießen“.

Irreführend ist dieses Fahrstuhl-Intro von Brühls Debütfilm Nebenan, weil es zwar das enge und filmisch bereits dicht besiedelte Diskursfeld der Gentrifizierung Berlins absteckt, dabei aber jene Drastik verhüllt, um die es Brühl eigentlich geht: Denn eigentlich denkt Nebenan Daniels Weg aus der Wohnung zum Flughafen nicht als das langsame Ankommen aus der weltentrückten Wohnung in einer urbanen Realität. Vielmehr will Brühl sein Alter Ego mit schickem Musterhemd, Anzughose, gesund trainiertem Körper und brühlig-deutlicher Hörbuchstimme geradezu aufklatschen lassen. Zwar nicht unbedingt auf dem Betonboden des Innenhofes, in jedem Fall aber auf Peter Kurths Brocken von einem Körper, der den Wendeverlierer, Trinker, Callcenter-Arbeiter und Prenzlberg-Nachbar Bruno mimt.
Kluft der Identitäten

Dieser Bruno betritt die alte Berliner Eckkneipe, in der Daniel nur noch einmal verweilen wollte kurz vor dem Flug, und konfrontiert ihn mit der riesigen Kluft, die zwischen den beiden Identitäten liegt: Der eine kommt aus dem Osten, der andere aus dem Westen, der eine dreht Filme über die Stasi, der andere saß in Hohenschönhausen, dem einen haben solche Filme geholfen, nun an Castings für Hollywood zu kommen, der andere sollte nach ’89 umschulen, um dann doch wieder von der rasanten Entwicklung der Produktionsmittel wegrationalisiert zu werden.

In seinen besten Momenten handelt Nebenan nicht nur von der fehlenden Anerkennung einer marginalisierten Identität durch eine privilegierte, sondern davon, dass dieser Bruno als soziologisches Beispiel so etwas wie die materielle Grundlage für Daniel bildet, der stämmige Kurth-Körper nicht nur das Gegenstück zum schnellen Leben von Brühls Figur ist, sondern auch das Fundament, auf dem sein Leben aufgebaut ist. Einst hat Brunos Vater dort im fünften Stock gewohnt, die Wohnung als Handwerker überhaupt erst zur schönen Maisonette-Wohnung ausgebaut, nur um dann von einem Investor zum Auszug gezwungen zu werden. Und auch die Macher von Daniels Stasi-Film, mutmaßt Bruno, sind bis auf die vielen Elektriker, Handwerker, manuellen Arbeiter der Filmindustrie wohl nur von Wessis besetzt. Ein im Kollektiv hart erarbeiteter Wert, der individuell angeeignet wird – ein alter Widerspruch, der sich gerade zu Beginn von Nebenan aus der Kluft zwischen den Identitäten langsam an die Oberfläche kämpft.
Seltsam unfreier Film

Der lehrstückartige Schlagabtausch zwischen dem souverän entlarvenden Bruno und dem sich um Kopf und Kragen redenden, ein bisschen zu arroganten Daniel wird zum Prinzip des Films. Ein Kammerspiel, getragen von den Vertretern zweier Enden der urbanen, westlichen Gesellschaft und unterstützt von einer ein bisschen zu klischeehaften Berliner Kneipenbesitzerin (Rike Eckermann), deren Namen Daniel nicht kennt, obwohl er hier Stammgast ist, dem ein bisschen zu schablonenartigen Trinker Micha (Gode Bendix) und den ein bisschen zu aufdringlichen Passanten, die wegen Daniel ab und zu die Kneipe betreten. Überhaupt wirkt Brühls Film seltsam unfrei, wie er da durch Daniel Kehlmanns Drehbuch so viele Beobachtungen und Erkenntnisse aus so streng entzweiten Lebenswelten didaktisch in seine Dramaturgie einwebt. Als zwänge sich ein Film nicht nur ständig dazu, seine Realität aus Eckkneipe und Luxus-Wohnung so stark wie möglich zu behaupten, sondern dabei auch seine politische Relevanz vor sich her zu tragen. Vielleicht aus Unsicherheit darüber, ob das filmische Potenzial durch die Transformation politischer Standpunkte in Bewegtbilder tatsächlich ausgeschöpft wird.

Noch seltsamer, dass selbst die eigenen Befreiungsversuche aus dieser Dynamik kaum ihr Ziel erreichen, wenn die Konfrontation Daniels mit seinem Nachbarn Bruno vermehrt von der Didaktik ablässt und in einen Racheplot abdriftet. Bruno fängt an, immer mehr Details aus Daniels Privatleben zu offenbaren, bis schließlich klar wird, dass er ihn und seine Familie seit Längerem observiert und dabei allerlei Leichen aus dem Designer-Keller zieht. Befreien vermag dieser Richtungswechsel den Film schon allein deswegen nicht, weil dabei mehr Kalkül als tatsächliche Lust an der Erzählung spürbar wird. Er rettet den Film vor sich selbst – als Hilfspaket der Suspense gegenüber dem bald eintönigen Lehrprogramm. Und er erlöst das kreative Duo Brühl/Kehlmann von der eigenen „Last“ des Privilegs: Daniel Brühls Nebenan ist als filmgewordener Beweis der kritischen Selbstreflexion, gar der Abrechnung mit dem eigenen Lebensstil vor allem ziemlich gut für Daniel Brühl. Der eröffnet mit seinem Debüt zwar nur selten Denkräume für eine tatsächlich notwendige Diskussion rund um Klassenverhältnisse, hat aber immerhin mal „klare Kante“ gegen seine eigene Position darin gezeigt.
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