Nawalny – Kritik

Eine Kamera mehr auf Nawalny: Daniel Roher rekonstruiert die Geschichte des russischen Oppositionellen und seiner mutmaßlich staatlich verordneten Vergiftung. Neues fördert er dabei nicht zutage, aber spannend bleibt es allemal.

„Am Sonntag, den 17. Januar 2021 fliege ich zurück nach Moskau. Wir sehen uns“, spricht Nawalny verbindlich und gut gelaunt in mindestens zwei Kameras: in die eines Smartphones, das sein Team auf ihn richtet, und in die von jemandem aus Daniel Rohers Filmteam. Es hat den russischen Oppositionellen im Schwarzwald besucht, als der sich 2020/2021 von einem Giftanschlag erholte. Die doppelte Kamera ist sinnbildlich für Rohers Film: Er durchdringt den Komplex Nawalny nicht, er überlagert ihn lediglich. Wenn Nawalny hier spricht, tut er es fast nie für Roher, sondern als Teil seiner umfangreichen Social-Media-Aktivität oder im Rahmen öffentlicher Auftritte. Lediglich zu Beginn gibt er dem Regisseur ein Interview, doch auch hier gibt Nawalny Ton und Story an: Als Roher ihn fragt, welche Botschaft er im Falle seines Todes an das russische Volk hinterlassen möchte, wehrt Nawalny ab: „Lass uns aus diesem Film einen Thriller machen, und falls ich umgebracht werde, machen wir einen langweiligen Nachruf.“

Kein eigener Blick

Nun ist nichts dagegen einzuwenden, dass Roher für seinen Dokumentarfilm nicht Nawalnys Aufmerksamkeit fordert, sondern ihn in der Beobachtung zu erfassen versucht; und natürlich ist jemand, dessen Wirken und Erfolg auf Social Media beruht, oft bei der Selbstdarstellung zu sehen. Roher aber begnügt sich damit, Aufnahmen aneinanderzureihen, die die Welt schon kennt – ohne ihnen eine eigene Handschrift, eine eigene Reflexion einzuhauchen, sieht man vom epischen Soundtrack ab, der Nawalny als Helden markiert. Vielleicht hatte Roher nicht die Ambition, eine eigene Geschichte über seinen Protagonisten zu erzählen, vielleicht hat er sich zu gerne in dessen bestehende Storytellingmaschine eingegliedert (als eine der Executive Producers wird Maria Pevchikh genannt, eine von Nawalnys engsten Mitarbeiterinnen in der 2011 von ihm gegründeten Antikorruptionsstiftung).

Auch das wäre verständlich, denn ohne jeden Zweifel bietet Nawalny absolut faszinierenden Stoff. Da ist zunächst die Person: ein junger, fröhlicher, kräftiger Mann, der gegen die Korruption und für freie Wahlen in Russland kämpft. Bevor es um politische Inhalte gehen kann, muss es freie Wahlen geben, sagt Nawalny im Film; vielleicht zeigt Roher deshalb wenig von Nawalnys politischem Programm. Zu weit ist noch der Weg zu einer Gesellschaft, in der sich diese Ideen in einem freien Wettbewerb mit anderen politischen Kräften behaupten können. Das Wirken des Dissidenten ist ein Kampf gegen das System, der sich in einer medialen Welt auf einen Kampf der Bilder zwischen zwei Männern zugespitzt hat: auf der einen Seite der attraktive Nawalny, umgeben von seiner liebevoll scherzenden Familie, auf der anderen Seite der ältere, grimmige Putin, der in einer gelungenen Montage unzählige Male von „der Person, die Sie erwähnt haben“ spricht, unfähig oder unwillig, Nawalny beim Namen zu nennen.

Den Thriller nacherzählen

Was im August 2020 passiert, liefert in der Tat Thrillerstoff: Auf einem Flug vom sibirischen Tomsk nach Moskau bricht Nawalny zusammen, es folgen eine Notlandung in Omsk und die Einweisung in ein örtliches Krankenhaus. Nach anfänglichem Widerstand wird Nawalnys Verlegung nach Deutschland gestattet, wo die Vergiftung mit einem chemischen Nervengift festgestellt wird; die Bundesregierung ist überzeugt, russische staatliche Stellen seien für den Anschlag verantwortlich. Auf einer Pressekonferenz kommentiert Putin lakonisch: „Wenn wir es gewollt hätten, hätten wir die Sache zu Ende gebracht.“ Eine vom Datenjournalisten Christo Grosew initiierte Ermittlung zeichnet indes ein anderes Bild: Mehrere Agenten des russischen Geheimdienstes waren am Anschlag beteiligt und verfolgten Nawalny seit Jahren. Auf der Grundlage landet Nawalny vermutlich seinen größten Coup: Er ruft mehrere der identifizierten FSB-Agenten an und erwischt schließlich einen, der keinen Verdacht schöpft und sich auf das Gespräch einlässt; dabei schildert er Nawalny, dass das Gift an seiner dunkelblauen Unterhose angebracht worden sei. Die Videoaufnahme des Telefonats – die Spannung, der Unglaube, die nur durch Mimik und Gestik zum Ausdruck gebrachte Euphorie des Live-Geständnisses – bildet den Höhepunkt des Films, aber auch sie ist schon in Gänze aus Nawalnys Social-Media-Aktivitäten und internationaler Berichterstattung bekannt. Vielleicht werden manche Nawalny als packenden Thriller feiern; dabei ist er ein nacherzählter Thriller, die Story und die Bilder haben andere geliefert.

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