Naomis Reise – Kritik
Frieder Schlaichs Gerichtsdrama um einen rassistischen Mord stellt dem monotonen Juristen-Sprech die universelle Sprache der Gefühle entgegen. Einen Dolmetscher braucht Naomis Reise trotzdem.

Das Wort gesetzmäßig trifft wohl am besten, wie Frieder Schlaich die Gerichtsverhandlung in seinem Justiz-Drama Naomis Reise inszeniert. Das Gestaltungsprinzip lässt jeden Schritt der Verhandlungen erwartbar werden: Ein Zeuge im Mittelpunkt. Er wird neutral, doch freundlich über seine Rechte und Pflichten aufgeklärt, dann folgt die Befragung. Erst der Richter, dann der Staatsanwalt, anschließend Verteidiger und Anwältin der Kläger. Irgendwann der nächste Zeuge, und das gleiche Spiel von vorn. Schlaich genießt es, diese Regelmäßigkeit zu zeigen. Dieses gründlich-langsame Nacheinander der Verhandlung und diese ermüdende Wirkung der justiziellen Sprache, die er durch die Besetzung seiner Rollen mit tatsächlich praktizierenden Juristen erreicht. Gesetzmäßigkeit scheint hier alles zu durchdringen, nicht nur im Bild, sondern auch das Bild selbst. Jeder, der spricht, bekommt seine eigene Einstellung, und wer sich regt, bekommt die nächste, jede einzelne durch einen ordentlichen Schnitt von der vorherigen getrennt. Keine Fahrten, kein filmisches Chichi. Stattdessen das Durchexerzieren von vorformulierten Statements, Gesetzen und Begrifflichkeiten. Ein schleichender, weil gründlich und sachlich geführter Prozess.
Emotion gegen Sachlichkeit

Dabei gäbe die Tat, über die hier verhandelt wird, durchaus Anlass zu heftigen Gefühlsregungen. Die nach Deutschland gezogene Peruanerin Mariella ist tot, und ihr deutscher Ex-Ehemann Bernd (Romanus Fuhrmann) wurde des Mordes an ihr angeklagt. Mariellas Mutter Elena (Liliana Trujillo) und ihre Schwester Naomi (Scarlett Jaimes) haben ihr letztes Geld geopfert, um nachzureisen und als Nebenklägerinnen vor Gericht anwesend zu sein. Das bedeutet vor allem, still dazusitzen und einer monotonen Verhandlung zuzuhören, in der mit scheinbar juristisch völlig korrekten, aber moralisch fragwürdigen Begriffen gearbeitet wird – etwa „die Geschädigte“ für das Opfer eines doch ziemlich brutalen Tötungsdeliktes. Wenn man sich den Verlauf der Tat dann – gegossen in ein kein Detail auslassendes Beamtendeutsch – anhört, ist es vorprogrammiert, dass bei den Angehörigen die Gefühle hochkochen. Aber genau da will Schlaich in Naomis Reise auch hin: nicht zu unterdrückende Emotionen und Affekte in einer Umgebung, in der nur Sachliches zählen darf, in der jedes noch so komplizierte subjektive Gefühl nur als absurde Vereinfachung durch gesetzliche Definition eingehen darf und alle Regungen, die nicht in dieses Schema passen, vom Richter zwar mit Verständnis, aber auch klarer Zurückweisung behandelt werden.
Gefühle als universelle Sprache

Je länger man dort zuhört, desto fremder wird einem das Ganze. Nicht nur, weil derart sachlich über eine Tat gesprochen wird, deren Hintergründe viel mit kolonialen Denkstrukturen und Rassismus zu tun haben. So wird etwa im Laufe der Verhandlung klar, dass der wohlhabende Bernd, für den „nur Latinas in Frage kommen“, Marietta als Sextourist in Peru kennengelernt hat. Sondern auch, weil dieses langsame Nacheinander der Befragung, in der immer noch ein Spanisch-Übersetzer per Kopfhörer dazwischen geschaltet werden muss, jegliche Lebendigkeit in den Dialogen lähmt. Haltepunkt bleiben da nur noch die Emotionen. Gegenüber dem Juristen-Sprech sind sie als Vokabular konzipiert, das keine Übersetzung braucht. Das so universell ist, dass es die Sprach-Barriere zwischen der wohl mehrheitlich deutschsprachigen Zuschauerschaft des Films und seinen peruanischen Hauptfiguren auch ohne Untertitel mit nur einem Affekt einreißen könnte. Und so ist es das vor Wut und Trauer tränende Gesicht von Mariellas Mutter oder ihre verbalen Ausschweifungen, die wir inmitten der ganzen sprachlichen Formalität am allerbesten verstehen sollen.
Diese nervige Stimme im Ohr
So schön sich dieser Anspruch von Naomis Reise langsam bemerkbar macht, umso deutlicher wird auch, dass die Erfahrung des Films voll und ganz davon abhängt, wie stark die immer wieder auftauchenden Affektbilder Naomis und ihrer Mutter wirken. Und „immer wieder“ ist tatsächlich ein recht gutes Stichwort, steht der schleichende Gerichtsprozess mit seinem lähmenden Nacheinander doch auch für den Film selbst. Als wäre es für diesen Gesetz, wechseln sich die Szenen aus dem kahlen Gerichtssaal ziemlich verlässlich mit denen aus Naomis Unterkunft bei einer Freundin ihrer Schwester ab. Hier darf sich zwar die Statik der Filmbilder mal auflösen, dürfen emotionale Diskussionen über all die Themen geführt werden, gegen die sonst der Einspruch folgt. Aber wenn diese gefühlvolle Erlösung jedesmal antizipiert werden kann, wirkt sie auch kaum mehr.

Einmal vergleicht der Sextouri-Kollege des Angeklagten peruanische Familien mit einem Ameisenhaufen. Die verletzende Kraft des Rassismus ist bei Naomi sofort sichtbar, aber der Regisseur lässt sie sicherheitshalber nochmal nachfragen: „Hält er uns für Tiere?“ Ja, leider. Und dank Schlaichs Übersetzung hat das nun jeder mitbekommen, aber niemand so richtig gefühlt. Auch in der Verhandlung selbst, in der man als Zuschauer immer wieder nur darauf wartet, dass die Gefühle ausbrechen und Naomi sich endlich vor Wut den Übersetzer aus den Ohren holt, vermittelt Schlaich also nochmal zwischen Emotion und Zuschauern – und sabotiert die in Naomis Reise so beschworene universelle Sprache der Gefühle damit schließlich selbst.
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