Nackte Tiere – Kritik
VoD: In Melanie Waeldes Langfilmdebüt Nackte Tiere kämpft und küsst sich eine Gruppe Jugendlicher durch Plattenbauten und karge Landschaften. Die Zukunft ist kein Versprechen, sondern eine diffuse Bedrohung.

Fünf Freunde, irgendwo auf dem Land. Eine Mischung aus Plattenbau und kargen Landschaften. Es ist der letzte Winter vor dem Abitur, aber der Abschluss ist hier kein Fluchtpunkt, auf den die Handlung zuläuft. Nackte Tiere ist eine 83 Minuten währende Momentaufnahme, die sich nicht für das interessiert, was einmal sein wird, sondern für das, was einmal gewesen sein wird. Die Zukunft als eine diffuse Bedrohung, die einen Schatten auf die Gegenwart wirft, ohne je Gestalt anzunehmen. Nichts ändert sich, und doch ist alles anders, weil wir wissen, dass es vergänglich ist.
Die Lücke finden

Regisseurin Melanie Waelde hat sich für ein beengtes, fast quadratisches Bildformat entschieden, das dem Zuschauer die Weite des Horizonts verweigert, so wie der Film auch den fünf Jugendlichen die Perspektiven verweigert: Katja (Marie Tragousti) bekundet wortkarg, dass sie zur Bundeswehr will, Benni (Michelangelo Fortuzzi), dass er vielleicht kein Abi macht, Sascha (Sammy Scheuritzel), dass er nicht weg kann. Mehr werden wir nicht erfahren, hier werden keine Zukunftsbilder gemalt. „Wo ist die Lücke?“, brüllt Katjas Ju-Jutsu-Trainer sie im Zweikampf an. Die Lücke finden, durch die man sich zwängen muss, um zur Freiheit zu gelangen: Keiner der Jugendlichen hat eine Vorstellung davon, wie sie aussehen könnte, weder die Lücke, noch die Freiheit.

Filme, die junge Menschen an der Schwelle zu einem neuen Lebensabschnitt zeigen, werden gern mit dem Label des Coming-of-Age versehen, doch Nackte Tiere verweigert sich schon der in dieser Bezeichnung enthaltenen Bewegung. Katja, Sascha, Benni, Laila (Luna Schaller) und Schöller (Paul Michael Stiehler) werden in diesem Film nicht in den Erwachsenenstand gehoben, sie werden nicht auf die Probe gestellt, müssen nicht neue Herausforderungen bewältigen, erleben keine ersten Male. Vielmehr haben sie der Welt schon etwas abgerungen: eine Gemeinschaft, die einerseits das bietet, was die Elternhäuser offensichtlich nicht leisten – Fürsorge, Geborgenheit, Zuspruch –, andererseits aber selbst von Gewalt durchzogen ist.
Küssen, Kiffen, Kämpfen

Das enge Bildformat verstärkt das Gefühl, diese eigenartige Gemeinschaft wie durch eine Luke zu betrachten. Nackte Tiere taucht in die Welt ein, die sich die Jugendlichen eingerichtet haben, eine Welt eigener Räume, eigener Regeln. Ihr Zentrum findet sie in der spärlich möblierten, eher schäbigen Wohnung, die Benni samt Hase bewohnt. Hier schlafen sie in wechselnden Konstellationen, Betten gibt es nicht. Man bleibt weitestgehend von der Außenwelt abgeschirmt. Bis auf Benni geht man in den Unterricht, Katja und Sascha zudem zum Ju-Jutsu-Training.

Doch es ist ein Außen, für das sich Fion Muterts Handkamera kaum interessiert. Sie lässt die jungen Körper nicht aus den Augen, sieht ihnen zu beim Essen, beim Küssen, beim Kiffen, beim Tanzen, beim Kämpfen. Sie ist nicht auf Worte erpicht, auf einen Plot, der die Jugendlichen in Richtung Zukunft treibt. Diese Treibkraft findet die Kamera vielmehr in Katja: Sie steht im Mittelpunkt des Films, unnahbar, aber umworben, von Sascha, von Schöller, von der Kamera, die immer wieder in ihr markantes Gesicht schaut, vom Zuschauer, der so gern wüsste, wo sie herkommt und was sie eigentlich will. Es wird wenig gesprochen in Nackte Tiere, wenig erklärt, dafür vertraut Waelde ihren rauen Stimmungsbildern.
Schmerz und Fürsorge

Zu Beginn von Nackte Tiere treffen Katja und Sascha im Schulflur aufeinander. Katja begrüßt Sascha mit einem Faustschlag ins Gesicht, der knallt sie gegen die Schließfächer. Dann lachen sie, und Sascha begleitet Katja in die Notaufnahme, wo die Wunde genäht wird. Der Spagat zwischen Gewalt und Zärtlichkeit durchzieht den ganzen Film. Ein Film wie eine Wippe, es wird verletzt, dann wird versorgt, dann wird verletzt.
Über Laila erfahren wir dann doch mal etwas, nämlich dass ihre Mutter sie schlägt. Doch als Katja bekundet, dass sie Lailas Mutter hasst, erwidert Laila gefasst: „Dann hasst du auch einen Teil von mir.“ Schmerz und Fürsorge liegen eng beieinander. Der Umgang ist roh, immer wieder werden Grenzen ausgelotet. Mehrfach wird jemand so sehr verletzt, dass man ein ungutes Ende herannahen sieht, doch dann schlägt die Situation um, löst sich in Zärtlichkeit und Leichtigkeit auf. Ein Spannungsverhältnis, das schon der Titel birgt: in dem die Verwundbarkeit der Nacktheit sich mit dem Animalischen paart.
Der Film steht bis 21.10.2021 in der ARD-Mediathek.
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