My Salinger Year – Kritik

Philippe Falardeaus My Salinger Year beschwört ein literarisches Zauberland herauf, in dem Bücher die soziale Währung sind und verzücktes Schmachten das Erkennungszeichen. Doch die Fantasie enthält einen Selbstbetrug.

Joanna (Margaret Qualley) sitzt allein an einem Cafétisch im Hotel Waldorf Astoria und lässt verträumt die Blicke schweifen. Erst zur einen Seite – da sieht sie eine Dame, die leidenschaftlich Satz um Satz in ein offenes Notizbuch kritzelt. Dann zur anderen – da sieht sie einen Mann, der mit ergriffenem Ernst in die Seiten des „New Yorker“ vertieft ist.

In dieser kurzen Szene wird deutlich, dass Philippe Falardeaus My Salinger Year vor allem ein Zauberland heraufbeschwören will. Dieses magische Königreich wird aus den Redaktionsstuben des „New Yorker“ heraus regiert, nicht durch offene Machtausübung, sondern durch geistige Inspiration, seine Gründerväter und -mütter sind Figuren wie F. Scott Fitzgerald und Dorothy Parker, und seine Ländereien bestehen zum einen aus den edlen Salons und Hotels von Manhattan, zum anderen aus pittoresk heruntergekommenen Boheme-Behausungen in Brooklyn, die natürlich keine Heizung haben und in denen man, mangels Spülbecken, den Abwasch in der Badewanne machen muss. In dieser Welt reden alle Menschen, egal ob Kollegen, Freunde oder Zufallsbekanntschaften, nur über Literatur – oder eher: über den Enthusiasmus, den dieses oder jenes literarische Werk in ihnen zu entfachen vermag. Bücher sind hier die soziale Währung und verzücktes Schmachten das geheime Erkennungszeichen.

Ein Anruf von Salinger persönlich

Entsprechend diesem magischen Setting ist Philippe Falardeaus Film vom ersten Moment an von einem märchenhaften Tonfall durchdrungen. Mit staunend aufgerissenen Augen kommt die junge Studentin Joanna in New York an, und kaum hat sie sich entschlossen, länger zu bleiben, da hat sie auch schon – in einer der wundersamen Fügungen, die den ganzen Film durchziehen – eine Stelle als Assistentin in einer altehrwürdigen Literaturagentur. Dort bekommt sie von ihrer Chefin (Sigourney Weaver) den Auftrag, sich um die Fanpost des berühmtesten Autors der Agentur zu kümmern: J.D. Salinger, der zu dem Zeitpunkt (der Film spielt in den 1990ern) zwar schon seit Jahrzehnten nichts mehr veröffentlicht hat, dessen Fänger im Roggen aber immer noch allerlei Menschen, die auf die ein oder andere Art nach Orientierung und Halt in der Welt suchen, aus der Seele zu sprechen scheint.

Die zahlreichen Briefe dieser Leserinnen und Lesern soll Joanna mit einem schlichten Formschreiben beantworten, in dem mitgeteilt wird, dass Fanpost leider nicht zugestellt werden kann. Und doch werden die fremden Wünsche, Ängste und Sehnsüchte für sie zum Auslöser eines inneren Reifungsprozesses. Denn natürlich sucht auch Joanna nach ihrem Platz im Leben, natürlich plagt auch sie eine existenzielle Unsicherheit – und natürlich hat auch sie schriftstellerische Ambitionen. „Du bist doch Schriftstellerin und keine Agentin oder Sekretärin!“, raunt ihr Salinger zu, als er einmal in der Agentur anruft, und macht dadurch deutlich, dass es nicht um eine Frage des Handelns, sondern um eine Frage des Seins geht. In der Märchenwelt von My Salinger Year steht Joanna vor der Aufgabe, endlich diejenige zu werden, die sie sein will, die sie – vielleicht, hoffentlich – schon immer sein sollte.

Mitglied einer gesalbten Kaste

An sich ist gegen diese Art der filmischen Wunscherfüllung, des schwungvollen Nacherzählens eines traumhaft-reibungslosen Prozess des Erwachsenwerdens, nichts einzuwenden. Nur gründet diese Fantasie in Falardeaus Film auf einem inneren Widerspruch, auf einem Selbstbetrug, den der Film selbst nicht thematisiert, sondern dem er sich genüsslich anschließt. Denn die Sehnsucht nach einer literarischen Existenz – wie sie Joanna, ihr Freund sowie ihr gesamter Bekanntenkreis teilen – wird in My Salinger Year nie als Bedürfnis dargestellt, etwas auszudrücken, sich mit Sprache auseinanderzusetzen oder einem Publikum eine irgendwie reizvolle Erfahrung zu ermöglichen.

Zu keinem Zeitpunkt tritt Literatur hier als Arbeit in Erscheinung, die eine gewisse Anstrengung erfordert und die sich selbst Maßstäbe auferlegt, an denen sie sich dann messen lassen muss. Der Wert des Schreibens wird in Falardeaus Film einzig und allein darin gesehen, dass man sich durch ein eigenes literarisches Werk mit einer Aura umgibt, durch die man den Zwängen und Pflichten des Alltags weitgehend enthoben wird: Man kann gewisse soziale und moralische Privilegien in Anspruch nehmen, man wird, mithin, Teil einer gesalbten Kaste. Der Traum, den My Salinger Year so freudig ausschmückt und den er für seine Figuren auf spielerische Art wahr werden lässt – er ist ein zutiefst aristokratischer.

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