Music – Kritik
VoD: Ödipus als Spielzeug – Angela Schanelec demontiert in ihrem traumhaften Film einen Mythos und baut ihn neu zusammen. Jeder Music-Track ist ein kleines Geschenk, und Staat, Religion und Verrat rascheln in Music wie Blätter im Wind.

Vom göttlichen Spiel sind die Füße ganz geschwollen, nichts anderes meint der Ödipus. Pirlo passt zu Grosso, der Fall ist eindeutig, die deutsche Fußballnationalmannschaft der Männer scheidet im Halbfinale der Weltmeisterschaft 2006 aus. Wortmann, Klinsmann, ein „schwarz-rot-goldener Exzess“ (Max Czollek), ein Gewitter, ein Schrei, ein Kind ist geboren und gleichzeitig schon in den Brunnen gefallen. In zwei Minuten kann sich eben alles verändern, scheint es, die Wolken ziehen weiter, auf der Suche nach einer neuen Ordnung, nach den nächsten Held*innen einer Geschichte, die längst geschrieben steht. Nicht eine, sondern gleich mehrere Tragödien bringt Music von Angela Schanelec zur Aufführung, die mit Abstand interessanteste Regisseurin im diesjährigen Berlinale-Wettbewerb.
Kamera mit eigenem Kopf

Keinen Film über das wirkmächtigste Trauerspiel der Antike hat sie gemacht, stärker einen, der ihren Mythos und weitere Mythen demontiert, ihre Motive an sich nimmt, sie dreht, wendet wie ein Spielzeug, das in Music gegen die Leinwand geworfen wird. Als störrisch und spröde gilt das Kino der ehemaligen Theaterschauspielerin, weil es sich partout stringenten Erzählweisen verweigert, mehr show als tell, was nicht bedeutet, dass hier nichts erzählt werden würde, obwohl das gerne geschrieben wird über ihre Filme, tendenziell voller Bewunderung, teils vorwurfsvoll.
In Music wird erzählt, aber eben nicht von individuellen Leben oder characters, in die sich wer über die Sprache hineinfühlen könnte, und nicht mithilfe einer Kamera, die sonderlich daran interessiert wäre, Bewegung aufzuzeichnen und wiederzugeben, indem sie selbst permanent rotiert. Gelegentlich tut sie das zwar, nur folgt sie nicht ausschließlich den Menschen vor der Linse. Einen eigenen Kopf, einen eigenen Blick hat diese Kamera von Ivan Marković, der sich in langen Einstellungen entfaltet, auf Griechenland, auf Berlin, zu unterschiedlichen Zeitpunkten.
Der Tod der FDP am Potsdamer Platz

Übersetzen, aussparen, weglassen, das sind die Methoden Schanelecs, um über die Freuden der Liebe nachzudenken, die immer nur einen Augenblick anhalten. Die Jahre haben ihre Spuren hinterlassen. An den Felsen, Bäumen, Gebäuden und Autos sind diese Spuren manchmal leichter zu bemerken als an den Wellen und den Menschen. Das Kind vom Anfang wurde adoptiert, hat einen Namen bekommen. Jon (Aliocha Schneider) ist größer, stärker, so stark, dass er mit einem Stein einen Menschen umbringen kann. Ein Stückchen Seife pro Insasse, mit Kothurn lässt es sich auch in der Dusche beeindrucken. Die Gefängniswärterinnen zocken Tischtennis, machen Kreuzworträtsel. Briston oder Bristol, Spiegel oder Traum, es sind die zentralen Fragen in Music. Iro (Agathe Bonitzer) befindet sich unter den Aufseherinnen und kommt mit Jon zusammen, dem guten alten Mixtape sei Dank. Es folgen Kinder, eine Brille, eine Tochter, eine Wahrheit und das Licht, das Meer, plötzlich ein Sprung, der Klarheit bedeuten kann. Für die FDP wartet der Tod am Potsdamer Platz, wo sonst.
Brüche-Plädoyer statt Aufruf zur Einheit
Dialog findet selten zwischen den Figuren statt, die Bilder und Landschaften, die Lieder sind es, die sich miteinander und mit uns unterhalten, Vivaldi, Bach, Monteverdi, Pergolesi, jeder Track ein kleines Geschenk, das die Ohren und die Augen zusammen auspacken müssen. Die Tränen werden nicht getadelt, wenn die Götter uns endlich alleine lassen und die Kerne sich von der Schale der Granatäpfel ablöst. Erzählung bedarf in Music, der mehr für Brüche plädiert als zur Einheit aufruft, Geduld, Hingabe; ein Wagnis der Deutung.

Denn ähnlich eines barocken Theaters stellt dieser Film gestische Zeichen zur Schau, interessiert sich für die Art und Weise, wie geflohen, gelitten, getrauert wird, wie Hände sich halten (und welche Richtungen ihre Flächen anzeigen). Sitzen, stehen, liegen, stets in Kombination mit dem Schauen, das vollbringen die Figuren zumeist vor der Kamera. Insbesondere die Tiere in Music (Eidechse, Krebs, Maus, Hund, Fliege, Grille und mehr) verweisen auf die versteinerten Haltungen der Menschen, weil sie es sind, die in gewisser Weise frei sind, sich nicht benehmen müssen in jedem Szenario.
Klug zitiert Music jenen bestimmten Schauspielstil, der sich ab dem 17. Jahrhundert ausgehend von Italien auf Europas Bühnen durchsetzt, wo die Bewegungen der biegsamen Körper streng formalisiert und reglementiert sind, um über eben diese Codierungen Vorgänge des Inneren darstellbar zu machen, nicht im Sinne des Persönlichen, sondern des Überindividuellen oder Allegorischen, wie es schon Franciscus Lang 1727 in seiner Dissertatio de actione scenica, der Abhandlung über die Schauspielkunst, schreibt, wo die Affekte in den Augen erscheinen sollen – wo ein einziger Lidschlag, auf richtige Art und zur rechten Zeit, mehr auf das Gefühl einwirke, als es die Rede der Dichtenden vermöge.
Urdeutsche Geschichten
Let the mind wander, scheint Schanelec den Zuschauenden dieses traumhaften Films mitzugeben, der menschliche Erfahrung vergrößert (und das, was sich ihrer Kontrolle entzieht, was bei Sophokles noch Schicksal heißt); der uns ihr elliptisches Wesen aushalten oder zuweilen für einen kurzen Moment füllen lässt, ehe die Sinnlichkeit der nächsten Szene uns in neue Lücken lockt. Die Familie, der Staat, die Religion, der Verrat: All das raschelt in Music wie Blätter im Wind, denen sich bei einem Spaziergang begegnen lässt, durch die Zeit, die Liebe, durch die Welt und ihre Schichten, wo Verblendung und Wahn, Zurechenbarkeit und Reue, Schuld und Verantwortung urdeutsche Geschichten darstellen, denen wir zuhören müssen.
Der Film steht bis 15.05.2025 in der ARTE-Mediathek.
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Kommentare
P. Kronberg
Ein Orgasmus in Worte gepackt - oder viel Lärm um Nichts? Aber immerhin regt er zum selbstverliebten Wortschwall an. Das ist wohl die herausragende Eigenschaft von Shanelecs Filmen. Er lockt in die Lücke - zum intellektuellen Selbstbetrug. Alles ist Zeichen, alles hat Sinn, alles ist tief, wer sieht was darin? Kunst! Frohlocket! Aber Affen malen eben auch Bilder. Und ein Blindtest würde kaum ein Kritiker bestehen. Und die AI kommt noch. Immer dran denken in der eigenen Überwältigung.
Tom Pisa
@Kronberg: Es ist ok , Schanelec Filme nicht zu mögen. Atmen Sie ruhig weiter :-)
2 Kommentare