Die Unschuld – Kritik

Hirokazu Koreeda versetzt Rashomon in die Schule. Die Unschuld setzt seine Sozialkritik dreimal neu an und verliert sich dann in einer Fantasie.

Minato (Soya Kurokawa) lässt sich auch von seiner Mutter nicht einfangen, läuft schlichtweg aus dem Bild. Saori (Sakura Ando) bleibt zurück im Rahmen, langsam an diesem Sohn verzweifelnd, mit dem irgendwas los ist. Der Fünftklässler weicht ihren Fragen aus, will häufiger allein sein, spricht davon, sein Gehirn sei gegen das eines Schweins ausgetauscht worden. Irgendetwas ist gebrochen, irgendwas ist schräg. Zu Beginn von Hirokazu Koreedas Die Unschuld ist Minato erratischer Fluchtpunkt der Erzählung, am Ende, nachdem der Film dreimal neu angesetzt, sich verloren und wiedergefunden hat, wird diese Erzählung ganz und gar ihm und Schulfreund Yori (Hinata Hiiragi) gehören.

Schädeldecken der Entschuldigung

Herzstück, ja Heldin des ersten Teils ist die alleinerziehende Saori, die spätestens nach Andeutungen ihres Sohnes, es sei in der Schule zu einem gewalttätigen Übergriff eines Lehrers gekommen, die Faxen dicke hat und bei der Rektorin vorspricht. Bald darauf strecken ihr fünf Männer in ergebener Entschuldigungsgeste ihre Schädeldecken entgegen. Selten war Koreeda so nah an der Überspitzung wie hier, inhaltlich passen die Sequenzen in der Schule aber zur humanistischen Anklage der Institutionen, die sein Kino häufig ausmacht. So fleht Saori die Rektorin an, nicht nur Formeln der Etikette herunterzubeten, sondern ihr von Mensch zu Mensch zu begegnen, worauf die Rektorin noch einmal ein paar Formeln der Etikette runterbetet.

Allein der Film nimmt für sich in Anspruch, Dosen der Menschlichkeit auf seine Figuren zu verteilen, und damit fängt er spätestens an, als er an den Anfang der Erzählung zurückspringt, um sie neu zu perspektivieren. An Kurosawas Rashomon gemahnt Die Unschuld von nun an, zentriert nacheinander drei unterschiedliche Blickwinkel, um sich dem Mikrokosmos Schule und seinen sozialen Verwerfungen zu nähern.

Große Gesten mit allen Elementen

Koreeda hat mit Die Unschuld ausnahmsweise kein eigenes Drehbuch (sondern das von Yuji Sakamoto) verfilmt, was dem in der ersten Hälfte etwas vollen Film durchaus anzumerken ist. Ein bisschen manipulativ scheint alles auf eine bekannte Erkenntnis hinauszulaufen: dass Mr. Hori (Eita Nagayama) nicht so schlimm ist wie befürchtet, dass es überhaupt mit der Wahrheit so eine Sache ist, dass alle Figuren ihr Päckchen zu tragen, für Handlungen ihre Gründe haben.

Doch ist dies nicht These, sondern Prämisse des Films, der von Anfang an einer jener großen Gesten ist, an denen alle Elemente beteiligt sind. Es beginnt mit einem großen Feuer in einem Hochhaus, es endet mit einer großen Flut, die die Erde wegschwemmt, und zwischenzeitlich wirbelt ein Sturm die Dinge ordentlich durcheinander. Die Unschuld lässt sich mitreißen von dieser Bewegung, wenn der Film vom genauen Beobachten ins große Fühlen übergeht und Ryuchi Sakamotos bis dahin eher nachdenkliches Klavier endlich ein bisschen träumen darf. Vom dramaturgischen Kurosawa-Skelett flüchtet Koreeda in eine Art Miyazaki-Fantasie: Zwei Schulfreunden, die nicht so miteinander sein dürfen, wie sie es gerne wären, bleibt nur das Versteck im Wald, um die Möglichkeit einer Zukunft am Leben zu erhalten, zu der ausgerechnet die Schulrektorin an anderer Stelle dem Publikum eine radikal kollektive Glücksdefinition hinter die Ohren schreibt.

Für Ryūchi Sakamoto

Das macht die Freude von Die Unschuld aus: dabei zuzusehen, wie ein Film aus einer scheinbar klaren Konstruktion ausbricht, sich von Bildern und Begehren affizieren lässt, die man schon häufig, aber selten im Kontext des klassizistischen japanischen Kinos gesehen hat. Für Komponist Ryūchi Sakamoto war dies nicht nur die erste Zusammenarbeit mit Koreeda, sondern auch die letzte Arbeit seines Lebens, Monster wurde nachträglich seinem Vermächtnis gewidmet. Es ist ein schöner Schlusspunkt: ein Film, der die reiche japanische Filmgeschichte im Gedächtnis, einen kritischen Humanismus im Kopf und den Übergang zu einer lebenswerteren Zukunft im Herzen trägt.

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