Die Zukunft in unseren Händen – Kritik
VoD: Wie die Welt geboren wird. In ihrem dokumentarisch anmutenden Film porträtiert Léa Fehner ein Gesundheitssystem, das Patienten und Personal malträtiert. Die Zukunft in unseren Händen lässt die Geburtsstation zur Fabrik werden.

Die Sirenen heulen. Zwei junge Frauen hetzen durch das Krankenhausgelände und klingeln an der Geburtsstation, es ist ihr erster Arbeitstag. Die Tür öffnet sich. Sodann werden Louise (Héloïse Janjaud) und Sofia (Khadija Kouyaté) zeitgleich mit dem Zuschauer hineingezogen in das, was sich Die Zukunft in unseren Händen (Sages-femmes) zum Gegenstand gemacht hat: den Arbeitsalltag auf der Geburtsstation eines großen Klinikums, ein Ort also, an dem die Grenzerfahrung der menschlichen Geburt auf ein System am Limit trifft, das nur das Pflichtbewusstsein und die Aufopferung des malträtierten Personals am Leben hält.

Als Louise und Sofia am Ende ihres ersten Arbeitstages wieder rausgehen – die Szene hat tatsächlich nur wenige Minuten gedauert – spürt man förmlich ein Aufatmen. Es ist, als hätte man selbst den ganzen Tag auf der Station verbracht. Der Kopf brummt noch, die rastlose Geräuschkulisse hallt nach: Mitarbeiter rennen von einer Patientin zur anderen, Türen werden geöffnet und fallen zu, die Monitoring-Systeme piepen, immer wieder ertönen Alarme, werden Dinge eilig zugerufen. Die Handkamera ist mittendrin, folgt einem Reiz nach dem anderen, findet nie zur Ruhe.
Kein Wunder

Das geschäftige Treiben könnte durchaus seine eigene Faszination entfalten, wir schauen schließlich so gerne zu, wenn das Kino uns Menschen zeigt, die ihr Handwerk beherrschen: Gesten, die präzise getaktet sind und sich scheinbar mühelos in das große Maschinenwerk fügen; ein Team, das sich einer unmöglich klingenden Aufgabe verschrieben hat, nämlich den Ausnahmezustand zu organisieren. Doch weder kommt in Die Zukunft in unseren Händen die Faszination des Handwerks auf, noch verführt uns Léa Fehner mit dem stets erneuerten Wunder einer Geburt. In der ersten Schicht von Louise und Sofia kommt weder eine Geburt noch ein Baby vor; lediglich eine Hochschwangere, die sich leidend über den Flur schleppt und der Hebamme Bénédicte (Myriem Akheddiou) im Vorbeigehen dazu rät, sich auf ihre Atmung zu konzentrieren – dies allerdings mit einer Ruhe und Einfühlsamkeit, die man in der Hektik nicht für möglich gehalten hatte. Immer wieder gibt es sie, diese flüchtigen Momente, in denen die eigentliche Bestimmung des Hebammenberufs durchschimmert.

Ansonsten zeigt Die Zukunft in unseren Händen eine systemgemachte Distanz zu den Frauen, ihren Angehörigen und ihren Babys; die Arbeit auf der Geburtsstation verkümmert zu fast absurd anmutendem Hin- und Herrennen, nähert sich in der Darstellung einer Fabrik: rastlos und kleinteilig. „Sabotage“, wirft Bénédicte ihrer Kollegin Marushka (Marushka Jury) vor, als diese ihr Louise an die Seite stellt, wie solle sie bei der Arbeitslast noch jemanden einarbeiten können? Entsprechend ruppig ergießt sich ein unverständlicher und furios getakteter Schwall von Abkürzungen und Fachbegriffen über Louise, deren kindlich-sanfte Art vollends fehl am Platz wirkt. Sofia fügt sich besser in den Arbeitsrhythmus der Geburtsstation, scheint wie gemacht für den Notbetrieb: rastlos, konzentriert, effizient. Sie übernimmt schnell mehr Verantwortung, doch ehe ihr Vorsprung die Freundschaft zwischen Louise und ihr auf die Probe stellen kann, hat das System sie zermalmt, Burn-out.
Einfach keine Zeit

Alle leiden, das ist in Fehners Film unmissverständlich: die Gebärenden und ihre Angehörigen, aber genauso das Personal, das nicht nur unter zermürbenden Bedingungen arbeitet, sondern vor allem zwangsläufig mit den eigenen Berufsidealen in Konflikt gerät. Am Ende wirft Bénédicte das Handtuch: nicht, weil sie unterbezahlt ist, auch nicht, weil sie nicht einmal auf Toilette gehen kann, wenn sie Dienst hat, oder weil sie die frühe Kindheit ihres Sohnes verpasst – sondern weil sie den jungen Eltern erst fünf Stunden nach der Totgeburt den Leichnam bringen konnte, dazwischen hatte sie schlicht keine Zeit. Die Zukunft in unseren Händen schließt mit den Aufnahmen einer Demonstration für bessere Arbeitsbedingungen ab. „Die Welt von morgen wird zwischen unseren Händen geboren“, heißt es auf einem Plakat. Was sagt das über die Welt von heute, dass sie auf diese Weise geboren wird?
Der Film steht bis zum 10.08.2023 in der Arte-Mediathek.
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