Memory Box – Kritik
Der Libanonkrieg und eine große Liebe werden vom Postboten aus den 1980ern in die Gegenwart geliefert. Joana Hadjithomas und Khalil Joreige haben einen klugen Film über Erinnerung gemacht, der sich nicht scheut, die ganz großen Gefühle zu triggern.
Das Schweigen der Mutter, die Panik der Oma entfachen die Neugier der Tochter, der Enkelin. Frauen aus drei Generationen, drei Umgänge mit der Vergangenheit. Neugier, Verdrängung, Nostalgie.

Aber von vorn: Ein Paket kommt an in Montreal, ein riesiges, eines, in dem dieser ganze Film verpackt ist. Maia (Rim Turki), an die das Paket adressiert ist, ist nicht zu Hause. Deshalb streiten sich ihre Mutter Téta (Clémence Sabbah) und ihre Teenager-Tochter Alex (Paloma Vauthier) um das Teil. Die Alte will es am liebsten verschwinden lassen, als sie den Absender sieht, die Junge würde es am liebsten einfach aufmachen. Es ist kurz vor Heiligabend, und man einigt sich: Maia soll das Paket haben, aber erst nach Weihnachten. Doch sie bekommt vorher Wind davon, findet das Teil. Sie ist gerührt, bewegt, so sehr, dass sie beim Auspacken bald innehält. Sie verflucht die Mutter, die ihr die Box vorenthalten wollte, und vor der Tochter verbirgt sie den Inhalt.
Material und Medium

Der Inhalt dieses Pakets, das ist dieser Film. Erst als es geöffnet wird, geht Memory Box so richtig los. In der Box ist Maias Leben, der vergangene Teil, ein Teil des vergangenen Teils: 1982–1986. Maia noch im Libanon, mitten im Krieg. Ein Teil, den Alex nicht kennt. Und deshalb wird das Mädchen bald heimlich in der Box wühlen, Sachen abfotografieren, die alten Briefe ihrer Mutter nicht nur lesen, sondern den Inhalt per Messenger mit ihrer besten Freundin teilen. Die Chats bemächtigen sich dann der Leinwand, man kennt diese filmische Methode mittlerweile, hier aber ist sie mehr als Masche, denn der Film gleicht sich der Box an, wird zum Mashup der Materialien und Medien.

In der Box befindet sich der Nachlass einer ehemaligen Freundin Maias, die kürzlich gestorben ist und mit der sie einst, in den 1980er Jahren, tagtäglich Briefe gewechselt hat, von Paris nach Beirut, von Beirut nach Paris. Und nicht nur Briefe, sondern alles Mögliche: Bilder, Kassetten, ganze Notizbücher mit allerlei Extras, kleine Umschläge mit Gerüchen, Fotoreihen zum Aufklappen. In den Notizbüchern lauter Dinge, für die es heute wohl Apps geben würde: ein Stimmungsgraph, auf dem Maia täglich ihre Laune eingezeichnet hat, eine Liste von Lieblingsliedern, ein Filmtagebuch. Haptisch ist dort vorweggenommen, was allmählich im Bild von Memory Box passiert: eine erinnerungsgesteuerte Fantasieexplosion, die Alex in die Vergangenheit ihrer Mutter befördert.
Flucht vor dem Tod ins Leben

Der Film basiert auf ähnlichen Fundstücken von Hadjithomas, hat sich aber einiges noch hinzugedichtet. Es ist, wenn man Maia fragt, ein Film übers Exil, über hinter sich gelassene und wieder hervorgekramte Leben, über Erinnerung und die Medien, mit denen wir ihr auf die Sprünge helfen. Aber auch, wenn man Alex fragt, darüber, wie schwierig es ist, sich die eigenen Eltern im gerade eigenen Alter vorzustellen. Das spornt das Mädchen nur an. Der Motor des Films ist die Neugier des Teenagers, der sich in der Vergangenheit der Mutter verliert wie in der neuesten bingeworthy Serie. Denn klar, im Libanon der 1980er gibt’s nicht nur Krieg, sondern auch Liebe: den schönen Raja (Hassan Akil), den Maia anhimmelt, den sie aber, wenn es nach ihren Eltern ginge, nie wiedersehen dürfte.

In einer der schönsten Szenen fahren Maia und Raja von einer Party nach Hause, auf dem Motorrad durch die Nacht. Auf Beirut fallen die Bomben, die Einschläge werden für die Liebenden zur gefährlichen Allee, sind ihnen so nah, wie sie es unmöglich gewesen sein können. Kein realistisches Bild, keine konkrete Erinnerung, sondern Flucht vor dem Tod ins Leben. Der Krieg bemächtigt sich der Erinnerung selbst, färbt noch jedes Bild ein, aber wird, wo dieses Bild mit Liebe getränkt ist, zum romantischen Feuerwerk am Nachthimmel. So überhöht Memory Box die konkrete Erinnerung zur Illustration der Erinnerungsarbeit selbst: wie sie die Dinge kondensiert.
Ohne Anstrengung
Joana Hadjithomas und Khalil Joreige machen neben dokumentarischen und fiktionalen Filmen auch Installationen, Skulpturen, Performances, aber gerade dem Spielfilmischen von Memory Box tut die Mehrsprachigkeit seiner Schöpfer gut. Erstaunlich, wie der Film trotz seiner Ebenenvielfalt nicht angestrengt nachdenkt, sondern in jedem Moment atmet und lächelt. Wie beiläufig er eine Dramaturgie spendiert bekommt, nicht bloß Essayfilm über Erinnerung ist, sondern zugleich Geschichten erzählt, im Hier und Jetzt wie im Damals. Wie er sich dann nicht scheut, die Fäden zusammenzuführen und auf ein großes Wiedersehen hinauszulaufen. Ein chaotisches Mashup ist er, aber auch ein Smoothie, und ein berührender Film.
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