Memoria – Kritik
Ein Baustellengeräusch wird für Tilda Swinton zum Ruf der Natur. Memoria lässt sich als klassische Sinnsuche verstehen, und doch beantwortet in Apichatpong Weerasethakuls Achtsamkeitskino keine Einstellung die Fragen der vorangegangenen.

Jessica (Tilda Swinton) wacht eines Nachts auf, weil sie ein Rumsen hört. In unendlich langsamen nächtlichen Bewegungen sucht sie die Quelle und kann sie nicht finden. Einen Tontechniker, der das Geräusch für sie rekonstruieren soll, lotst sie mit Adjektiven wie „runder“ und „erdiger“ in die richtige Richtung, denn das Geräusch lässt sie nicht mehr los. Unsere Aufmerksamkeit wird auf die Tonebene verschoben; Blätterrauschen, Geschirrklappern, Regenprasseln, alles ist sorgfältigst arrangiert. Immer wieder taucht dieses Rumsen auf, und immer gigantischer wird es.
Berührt sein von der Welt

Apichatpong Weerasethakul hat mit Memoria zum ersten Mal einen Film außerhalb Thailands gedreht (der, nebenbei bemerkt, auch der erste deutsche Kino-Release des Verleihers Mubi ist). Die langen und langsam bewegten Einstellungen stammen von Weerasethakuls Stamm- und Call Me By Your Name-Kameramann Sayombhu Mukdeeprom. Sie wirken, genau wie das gezäumte Sprechen und die intensiven, weil reduzierten Gesten, vor allem auf unser Zeitempfinden ein. Eine Hand, einen Ort neu zu sehen oder ein Geräusch neu zu hören und nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, das ist, was uns hier passieren kann.

Im Film wird einmal ausgedrückt, was man nicht mehr vermag, wenn man Beruhigungsmittel nimmt: „berührt sein von der Welt“. Jessica, stets leicht der Bildmitte entrückt, geht diesem Berührtsein nach und findet es in den Wäldern Kolumbiens. Das nächtliche Geräusch deutet sie vom Baustellenlärm zum Ruf der Natur um, voll von Erinnerungen an den Mutterleib und kindliche Traumata. Aufgelöst wird alles in einem bizarren Witz, den Jessica aber gar nicht mitzubekommen braucht. Sie hat ihr Heil in vager spiritueller Zurückgezogenheit gefunden.

Ist es so einfach? Die Berührung mit dem Berührtsein findet für Jessica in der Begegnung mit der gealterten Inkarnation eines flüchtigen Bekannten vom Anfang des Films statt. Als Fischer lebt er zurückgezogen in einem Bergdorf, das er nie verlassen hat. Auch Filme sieht er nie, denn er will das Sehen einschränken. Erfahrungen, so trägt er weise vor, seien schädlich. Auch träumt er nie. Als Jessica ihn bittet, ihm das zu beweisen, legt er sich auf die Erde und schläft. In der einzigen Nahaufnahme von Memoria sehen wir ihn völlig regungslos, die Augen offen. Schlaf und Tod sind nicht zu unterscheiden. Der mit einer mystischen Aura umgebene Weise auf dem Gipfel scheint friedlich und unendlich traurig.
Poetisch-überbordende Natur

Kaum eine Einstellung beantwortet die Fragen der vorangegangenen. Unklarheiten werden nur selten aufgelöst und erst außergewöhnlich spät und beiläufig. Obwohl der Film wie eine klassische Abenteuerreise und Sinnsuche verstanden werden kann, entzieht er sich so den Konventionen kontinuierlichen Erzählens. Ohne große Wucht wird in der Zeit vor- und manchmal zurückgesprungen, oder ein Tableau schiebt sich scheinbar ohne jeden Anlass zwischen zwei Einstellungen. Früh im Film bekommen wir das Hupkonzert einiger Autoalarmanlagen präsentiert, ohne dass sich je ein Grund offenbaren würde.

Weerasethakul beschränkt sich in seiner Themenwahl und auch darin, wie weit er diese Themen führt. Da ist eine poetisch-überbordende Natur und gleichzeitig die Rede von Fäulnis und Moder. Eine Flucht aus der Zivilisation mithilfe moderner Technik. Tiefe empathische Verbundenheit und nichtssagend-ungelenke Gespräche. Und die Archäologie, die wie zuletzt in Almodóvars Parallele Mütter (2021), wenn auch dort sehr viel konkreter, als Technik der Vergangenheitsbewältigung auftritt. Mit diesen Spannungen begnügt sich der Film inhaltlich, und sie ermöglichen die Ausbreitung der Zeitlichkeit, die sein Hauptanliegen ist. Memoria ist feines und in zauberhafter Unerbittlichkeit umgesetztes Achtsamkeitskino.
Neue Kritiken

Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes

Kung Fu in Rome

Dangerous Animals

Versailles
Trailer zu „Memoria“

Trailer ansehen (1)
Bilder




zur Galerie (10 Bilder)
Neue Trailer
Kommentare
Es gibt bisher noch keine Kommentare.