Mein Falke – Kritik

VoD: Ein schwieriger Vater, vielleicht eine Halbschwester und die Skelette der Vergangenheit. In seinem jüngsten Fernsehfilm lässt Dominik Graf einiges auf seine Protagonistin einprasseln. Mein Falke ist eine angenehm kleinformatige Erzählung über die Frage, wie viel Leben im eigenen Leben steckt.

„Ihr könnt mich verbrennen, ist mir egal. Nur denkt ab und an mal an mich.“ Das habe er zu seiner Familie für den Falle seines Todes gesagt, erzählt der Handwerker Reno (Harald Burmeister) etwa in der Mitte von Dominik Grafs Fernsehfilm Mein Falke. Dieses An-jemanden-Denken, ein Bewusstmachen der Existenz einer anderen Person, die einem etwas bedeutet, scheint Inga (Anne Ratte-Polle), an die sich Reno hier richtet, für sich nicht vorzusehen. Ihr Gesicht erzählt in diesem Moment von einer Person, die sich selbst fremd geworden ist und die sich nach etwas sehnt, was sie selbst nicht ausdrücken kann.

Tollpatschige Distanzierungsversuche

Inga ist forensische Biologin in Wolfsburg. Hauptsächlich obduziert sie Leichen, lässt Spuren auftauchen, die die Polizei mal mehr und mal weniger gebrauchen kann und geht sowieso sehr in ihrem Job auf. Gleichzeitig pflegt sie eine schwierige Beziehung zu ihrem Vater, ihr Mann hat sie vor zwei Jahren verlassen, sie muss das Skelett eines niederländischen Zwangsarbeiters wiederfinden und plötzlich taucht auch noch die junge Charlotte (Olga von Luckwald) auf, die ihre Halbschwester sein könnte. Es ist viel, was Mein Falke auf Inga einprasseln lässt. Gleichzeitig ist der Film keineswegs schwer, sondern erzählt die Geschichte einer Frau, die in sich selbst hineinhorcht und dabei mehr zu hören bekommt, als sie dachte.

Ähnlich wie schon in Hanne (2018) erzählt Graf von einer Frau, die sich selbst als Zumutung empfindet. Ohnehin reiht sich diese Inga in die Reihe der tollen Frauenfiguren in Grafs letzten Filmen ein – etwa Gesicht der Erinnerung (2022) oder Polizeiruf 110: Bis Mitternacht (2021) –, die in einer Welt, mit der sie sich arrangiert haben, zu der sie sich aber auch nicht ganz zugehörig fühlen, um ihre Würde, ihre Existenz und ihr Begehren kämpfen. Dabei verleiht Anne Ratte-Polle ihrer Figur bei deren Versuch, die Menschen in ihrer Umwelt auf Distanz zu halten, während sie gleichzeitig immer aufrecht stehenbleibt, eine gewisse Tollpatschigkeit.

Leuchtende Augen für den Falken

Mein Falke hätte eine metaphorisch überfrachtete Geschichte werden können, verwandelt sich bei Graf aber vor allem in warme und verträumte Bilder. Ingas Leben ist nicht trostlos, es ist nur ein wenig aus den Fugen geraten und sie findet keinen Weg zurück. Aber wenn sie ihrer Pathologiemannschaft Mikroskop-Bilder von Kieselalgen aus dem Tankumsee zeigt oder sie mit dem Falken interagiert, sein Vertrauen gewinnt und ihm das Fliegen beibringt, beginnen ihr Gesicht und ihre Augen zu leuchten. Beides sind weniger Metaphern für Ingas Gefühle als Bilder, die hinter eine von ihr aufgebaute Fassade schauen – etwas, das ihr selbst nicht gelingt.

Die verschiedenen Geschichten und Konstellation, in die Inga im Verlaufe des Films hineingerät, sind permanente Herausforderungen und gleichzeitig Spiegelungen ihres Innenlebens. Sie spielt dem Falken ihre Trennungsszene vor, um über ihn mit sich selbst kommunizieren zu können, und sagt an einer Stelle über die fehlgeschlagene Suche nach den Verwandten eines Babys, das tot im Wald aufgefunden wurde: „Man kann nur vermissen, was mal da war“. Das Schöne an dem Film ist, dass er Inga nicht psychologisiert oder ihr eine riesige Figurenentwicklung überstülpt, sondern sie in Situationen bringt, die etwas in ihr hervorbringen, was immer schon da war. Hier kommt ihm auch das Format des Fernsehfilms zugute, das weniger Größe und Breite als ein Kinofilm mit sich bringt, das darum vielleicht besser eine kleine Geschichte über die Frage, wie viel Leben eigentlich im eigenen Leben steckt, erzählen kann. Denn es sind nicht die großen Veränderungen im Leben eines Menschen, von denen Graf erzählen möchte, sondern die kleinen Momente, in denen sich etwas verschiebt, in denen man doch einmal aus sich herauskommt und spontan nach Rügen übersetzt.

Herzliche Tristesse

Gleichzeitig, und es gibt wohl kaum jemanden im deutschen Film, der oder die eine solche Ebene so beiläufig einziehen kann wie Dominik Graf, ist Mein Falke mit Wolfsburg an einem sehr spezifisch deutschen Ort angesiedelt. Die niedersächsische Stadt wurde 1938 von den Nationalsozialisten als Wohnort für die Volkswagen-Mitarbeiter*innen und das Nazi-Projekt „Kraft durch Freude“ gegründet und war 1945 unter dem Namen „Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben“ bekannt. Das VW-Werk taucht immer mal wieder im Bild auf, so wie die manchmal fast unendlich wirkenden Landschaften Niedersachsens. Schon Hanne spielte in diesem Teil Deutschlands, in dem trotz seiner enormen Fläche nicht viele Menschen leben, und der eine ganze eigene, manchmal herzliche Tristesse produziert. Auch Wolfsburg ist ein Ort unscheinbarer Langeweile, unter dessen Boden sich die Geschichte eines nie endenden Grauens finden lässt, wenn Inga die Gebeine von 13 Zwangsarbeiter*innen ausbuddelt und anschließend die Überreste einer Person an dessen niederländischen Verwandte übergibt. Inga erkennt in diesem Moment, wie sehr sie sich vor dem Vergessenwerden fürchtet, während der Film parallel von einer im Boden versunkenen, aber nie verschwundenen deutschen Brutalität erzählt. Mein Falke gelingt es, wie auch an vielen anderen Stellen, diese beiden Erzählungen nebeneinander herlaufen zu lassen, ohne dass sie sich gegenseitig in den Hintergrund drängen.

Die entspannte Leichtigkeit und Freude, mit der Graf von schweren Gefühlen erzählt, kulminiert in den Flugszenen des Falken. Vorsichtig, aber gleichzeitig auch voller Leben, fliegt er auf Ingas Arm zu, dann auf und davon, hinter einen Baum und gen Ostsee. Die Bilder fließen einfach so dahin. „Man kann nur vermissen, was mal da war“, heißt auch, dass man sich etwas zum Vermissen schaffen kann. Auf zu neuen Ufern.

Der Film steht bis 30.01.2024 in der Arte-Mediathek.

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