Meanwhile on Earth – Kritik

Berlinale 2024 – Panorama: In Real- und Animationsszenen erzählt Jérémy Clapin von einer jungen Frau mit Bruderkomplex, der eine Stimme aus dem All mit ziemlich dreisten Forderungen in den Ohren liegt. Das setzt nicht nur ihr körperlich zu.

Welche Folgen es haben kann, sich ein außerirdisches Samenkorn ins Ohr zu stopfen, erleben wir mit Protagonistin Elsa nicht nur hautnah, sondern förmlich im eigenen Gehörgang mit: Jérémy Clapins zweiter Langfilm Meanwhile on Earth (Pendant ce temps sur terre) – nach dem Animationsfilm Ich habe meinen Körper verloren (J’ai perdu mon corps, 2019) nun eine Mischung aus Real- und Animationsszenen – setzt mit einer Form von Body Horror zu, gegen die Augenzuhalten nicht hilft. Die Stimme aus dem All dröhnt dabei nicht nur schneidend unangenehm, sondern führt auch Erpresserisches im Schilde, rekrutiert Elsa zur Helferin einer Body-Snatcher-Invasion: Wenn sie ihren auf einer Weltraummission verschollenen Bruder zurückhaben möchte, muss sie den Aliens, in deren Fänge er geraten ist, zum Austausch fünf Leute ihrer Wahl als Wirtskörper in den Wald bringen.

Untragbare moralische Bürde

Während der in einer Art Rape-and-Revenge-Volte rekrutierte erste Kandidat, ein junger Holzfäller, der über sie herfallen wollte und nun nach der Transformation noch leicht ungelenk übers Unterholz stapft, Elsa und uns noch wenig Skrupel bereitet, wird die Auswahl der nächsten vier Opfer der jungen Frau zur untragbaren moralischen Bürde. Wessen Leben ist ausreichend sinnentleert – das der dementen alten Menschen womöglich, die Elsa in ihrem Job als Altenpflegerin betreut? Und überhaupt, wer ist sie, so eine Entscheidung zu treffen? Treffen wir sie doch selbst in einem ziemlich ambitionslos dahinplätschernden Leben an, das ganz im Bann des schmerzlich vermissten großen Bruders steht.

Vermutlich war noch kein Bruder räumlich so weit entfernt von seiner Schwester wie Franck von Elsa, und doch ist er als überlebensgroßes Vorbild stets präsent. Wenn man die Animationsfilmsequenzen, in denen sie ihm im Weltraum wiederbegegnet, als ihre Fantasien versteht, dann dienen sie dazu, eine Sehnsucht nach geteilten Träumen zu stillen, aber auch dazu, sich im Vergleich mit dem von der Welt verehrten Bruder kleinzumachen, sich etwa vorzuwerfen, ein Zeichentalent ungenutzt gelassen zu haben – in einer dieser Szenen berichtet Franck, er habe einmal Comics von ihr bei einem Wettbewerb eingereicht, nur um lakonisch hinzuzufügen, sie sei nicht angenommen worden.

Um Bruchstellen unbekümmert

Als eine in ein Science-Fiction-Gewand gekleidete Parabel darüber, wie man aus dem Schatten eines Menschen tritt, der das eigene Leben noch in der Abwesenheit bestimmt, ließe sich der Film leicht auflösen. Umso besser steht es ihm zu Gesicht, dass seine Teile nicht als streng kohärentes Ganzes, sondern als um seine Bruchstellen recht unbekümmertes Patchwork daherkommen. Ein Film voller Nacht- und Einsamkeitsbilder aus den Tiefen des Alls und der Wälder; die Welt, die den abwesenden Bruder verehrt, ist um Elsa herum ziemlich leer, etwa die Gedenkstätte mit der Astronautenstatue in ihrer Stadt, die sie zur Zwiesprache mit ihm aufsucht und wo es zum eingangs beschriebenen first contact kommt.

Dazwischen, im realistischen Modus mit surrealen Einsprengseln, Szenen aus Elsas trübem Alltag, Stress beim Job im Pflegeheim mit der Mutter, die zugleich ihre Chefin ist, der Vater versucht sie im Keller zumindest zum Kiffen zu überreden. Da sind die sehr schönen, mit sakraler Musik unterlegten Animationsfilmszenen, in den gleichen graugrünen Tönen wie in Clapins Debüt, da ist eine im Bild exponierte Kettensäge, von der man ahnt, dass sie nicht nur zum Holzfällen eingesetzt werden wird: Zusammen ergibt all das nicht das Lehrstück, das aus dem Stoff hätte werden können, auch, bei allem Genrewissen, mit dem der Film durchtränkt ist, keine Wiedererkennungscheckliste zum Abhaken, sondern ein Nachtstück von eigentümlicher, leicht schrulliger Poesie.

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