Marvin – Kritik

Ein schwuler Junge flüchtet aus der verarmten französischen Provinz, er ist der Autor Édouard Louis, aber dann auch wieder nicht. Anne Fontaines Marvin feiert die Lust an der Verwandlung.

Das Verhältnis, das Marvin (Jules Porier) zu seinen Eltern hat, verdichtet sich zu einem einzigen Blick. Während die Arbeiterfamilie am recht unordentlichen Esstisch der viel zu kleinen Wohnung speist, sitzt der Junge ein wenig abseits und schaut die Eltern mit einer Mischung aus Abscheu und Mitleid an. Er weiß, dass er nicht in diese arme, provinzielle Welt gehört, in der alles von der Norm Abweichende gnadenlos ausgeschlossen wird; in der homophobe Graffitis, „Schwuchtel“-Rufe und physische Gewalt so alltäglich sind, dass sie nur noch dem auffallen, den sie treffen.

Überführung der Gewalt in Begehren

Wenn wir Marvin immer wieder aus der Nähe, sein Umfeld dagegen aus der Distanz sehen, wird schon deutlich, wie abgeschnitten der Protagonist von diesem ist. Es scheint, als würden sich diese Sphären nur treffen, wenn sie brutal aufeinanderprallen – etwa wenn der Junge wieder einmal den Erniedrigungen und sexuellen Übergriffen seiner Mitschüler ausgesetzt ist. Und weil jemand „wie er“ hier angeblich gar nicht existiert, wird die Gewalt für Marvin sogar zum einzigen Anknüpfungspunkt für ein schwules Begehren. Als lustvolle Fantasie ruft der Junge den Missbrauch wieder ins Gedächtnis, korrigiert das Bild aber nachträglich, in dem er die spöttische in eine zärtliche Geste verwandelt.

Anne Fontaines neuer Film bezieht sich auf den Debütroman des 25-jährigen Édouard Louis, wiederum mehr oder weniger die literarische Fassung von Rückkehr nach Reims des Soziologen Didier Eribon. In Das Ende von Eddy erzählt der Schriftsteller schonungslos und vor allem mit grausamer Genauigkeit von den Demütigungen seiner Kindheit – etwa, wenn er den groben Umgangston auf dem Dorf wiedergibt oder den Gestank der Spucke seines Peinigers beschreibt, die ihm übers Gesicht läuft. Fontaine geht noch darüber hinaus und zieht noch weitere biografische Details des Autors mit ein. Sie erzählt, wie Marvin als junger Mann nach Paris flieht, dort in die Künstlerszene vordringt und sich dabei mit dem älteren Akademiker Abel (Vincent Macaigne) anfreundet, der deutlich an Louis’ Lehrer Eribon angelehnt ist.

Beruf: Anderssein

Und doch taucht der Name des Autors nicht einmal im Abspann des Films auf, weil Fontaine zwar mit all diesen Versatzstücken arbeitet, sie letztlich aber zu etwas Eigenem formt. Dass Marvin nicht Schriftsteller, sondern Schauspieler werden will, ist vielleicht der Schlüssel für diese Neuinterpretation. Der Junge möchte nicht nur weg und jemand anders sein, er möchte das Anderssein sogar zu seinem Beruf machen. Dabei trennt Fontaine nicht fein säuberlich zwischen Wirklichkeit und Imitation, sondern zeigt das Spiel als elementare Lebensstrategie in all seinen mal destruktiven, mal befreienden Schattierungen. Ähnlich fließen auch die verschiedenen Zeitebenen ineinander, heben eine klassische Chronologie auf, ziehen Parallelen und betonen Unterschiede und machen Marvin dadurch zu einem Film, der gleichermaßen von den unauslöschbaren Spuren der Vergangenheit wie auch der unstillbaren Lust an der Verwandlung erzählt.

Da ist zunächst das Unverrückbare: die soziale Herkunft und der Körper. Der französisch-britische Schauspieler Finnegan Oldfield spielt den erwachsenen Marvin. Mit seiner schmalen Figur, der blassen Haut und einer fast aristokratischen Aura sieht er eigentlich genauso aus wie zuletzt in Bertrand Bonellos Nocturama oder Katell Quillévérés Die Lebenden reparieren – und wirkt dabei doch ganz anders. Der Unterschied lässt sich vor allem an der Silhouette und den Bewegungen festmachen. Die Brust hat er herausgestreckt, der Gang ist dabei betont aufrecht und der suchende Blick wirkt sanft, aber in seiner Unsicherheit auch ein wenig mechanisch. Neben den roten Haaren ist es vor allem dieses Auftreten, das den kleinen und den großen Marvin wie Spiegelbilder des jeweils anderen erscheinen lassen.

Das Paradox von Fontaines Protagonisten besteht darin, dass er die Distanz zu seinem provinziellen Umfeld nie überwinden konnte, sich nun in seinem Pariser Exil aber auch nicht von ihm lösen kann – was der Film zeigt, indem er Szenen aus der Kindheit an die Wände projiziert. Wenn Marvin hier mit seiner Vergangenheit abschließen will, einen neuen Namen annimmt und sich von seinem älteren Mäzen und Liebhaber (Charles Berling) die derangierten Zähne richten lässt, offenbart sich, dass die Suche nach einem neuen Ich auch immer die Gefahr beinhaltet, aus falscher Scham jene Aspekte der eigenen Geschichte zu eliminieren, die gesellschaftlich geächtet sind. Abels wütendem Monolog über Marvins Leugnung seiner Herkunft stellt Fontaine eine Rückblende gegenüber, in der dieser versucht, sich an das archaische Männlichkeitsbild seiner Heimat anzupassen.

Das Spiel als Verdrängung und Potenzial

Das Spiel ist in Marvin vieles: ein Mittel zur Verdrängung, eine Möglichkeit zur Traumabewältigung (wenn die Hauptfigur immer wieder Streitgespräche der Eltern bis ins kleinste Detail nachstellt), aber eben auch eine Strategie, um sich selbst zu finden und unverwundbar zu machen. Irgendwann taucht in diesem Film, in dem auch die Realität zur Inszenierung wird, noch Isabelle Huppert als fiktive Version ihrer selbst auf, motiviert den Jungen zu seiner Karriere und legt ihm nahe, sein Englisch zu verbessern: „Mit fremden Sprachen kann man sich verkleiden.“

Es ist noch eine andere Frau, die für Marvins Werdegang wichtig ist: Mit der idealisierten Figur der Schuldirektorin, die eine fast religiöse Begeisterung für die Kunst hat, zeichnet sich ab, dass Fontaine im Spiel auch ein gesellschaftliches Potenzial für die Wandelbarkeit des Menschen sieht. Marvin wirkt durch diesen Aspekt deutlich versöhnlicher als Louis’ zwar gerade in seiner Wut mitreißendes, aber doch mitunter auch etwas hochnäsiges Buch. Denn im Film ist es nicht nur der Titelheld, dem die Bereitschaft zur Veränderung zugestanden wird, sondern – zumindest ansatzweise – auch seinen Eltern. Sie sagen grauenvolle Sachen über Schwule und Migranten, haben im Gegensatz zu ihrem Sohn aber auch nicht die Möglichkeit, aus ihrer engen Welt auszubrechen – und sind trotzdem in der Lage, sich innerhalb ihrer Grenzen weiterzuentwickeln. Der Graben zwischen Marvin und ihnen wird dadurch zwar nicht unbedingt kleiner, aber der Blick des Jungen ist am Ende doch etwas milder und verständnisvoller.

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