Martin Eden – Kritik
VoD: Die Welt bestraft den, der ihre Grenzen überschreitet. Der Aufstieg Martin Edens von der Unter- in die Oberschicht hat in Pietro Marcellos Jack-London-Verfilmung die Züge eines tödlichen Krankheitsverlaufs.

Wer ist mächtiger: die Welt oder ich? Die ersten Sätze von Martin Eden sind Fragen eines Menschen in seinem bereits fortgeschrittenen Experiment, die inneren Grenzen der Welt zu überwinden. Es handelt sich um gesellschaftliche Grenzen, um Klassenunterschiede. Wenn das Individuum stark genug ist, denkt sich der Fragende, erledigen die Evolutionsgesetze den Rest und befördern es an die Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie. Und dennoch nimmt der Aufstieg von der unteren in die obere Schicht die Züge eines tödlichen Krankheitsverlaufs an. Die Welt scheint denjenigen zu bestrafen, der ihre Grenzen überschreitet.
Fanatisches Autodidaktentum

Martin Eden ist eine Verfilmung des gleichnamigen Romans von Jack London. 1909 erschienen, nimmt es eine Sonderstellung im Werk des Autors ein, da es stark autobiografische Züge trägt und einen explizit politischen Charakter hat. In detaillierten Schilderungen durchlebt man eine lange Entwicklungsgeschichte voller Hoffnungen, Verzweiflungsmomente und Erfolge, die den armen und ungebildeten Seemann in einen erfolgreichen Schriftsteller verwandeln. Der Reiz liegt dabei vor allem im Erleben eines fanatischen Autodidaktentums, in dem Experiment, aus eigener Kraft das Unmögliche möglich zu machen. In Pietro Marcellos Verfilmung ist dieser Reiz glücklicherweise nicht verlorengegangen, obwohl die Dauer dieser Entwicklung auf zwei Stunden reduziert ist. Marcellos Martin Eden ist eben ein Film und kein Buch, und er trägt dieser Geschichte mit anderen Mitteln Rechnung als durch das Nacherleben der unendlich langen und leidvollen Arbeit, die für das Experiment des Aufstiegs von Martin Eden geleistet wird.
Spielerische Inkonsistenz der Form

Martin Eden von Marcello hat das San Francisco des 19. Jahrhunderts verlassen und spielt nun in Neapel irgendwann im 20. Jahrhundert. Die Epoche der Handlung ist einer starken Entgrenzung ausgesetzt, und die zeitgeschichtlichen Verweise, die durch Kleidung, Technik, Architektur und Umgangsformen gegeben sind, variieren zwischen 1920 und 1990. Die Handlung, obwohl sie stringent der Entwicklungslogik folgt, ist durchsetzt von Bildern der Erinnerung und der Vision, für die Marcello auch dokumentarisches Material verwendet und dieses teilweise verändert, beispielsweise koloriert hat. Statische Einstellungen wechseln sich mit wackeligen Handkamerabildern ab und altmodische Filmmusikuntermalung mit Popsongs. Die konsistent erzählte Geschichte, getragen vor allem durch Luca Marinellis mitreißendes Spiel, wird durch eine spielerische Inkonsistenz der Form verfremdet.
Marcello nimmt es offensichtlich ernst mit der Zelebrierung des Autodidaktischen. Denn Martin Eden demonstriert im Buch wie im Film, dass trotz aller Angleichung des Proletariers an die Bourgeoisie, trotz der Verwandlung eines Analphabeten in einen Wortkünstler, immer ein gewisses inneres Anderssein bleiben wird. Martin Eden hat eine Sonderstellung, die unmöglich aufzuheben ist, weil er eben auch schon die andere Seite gesehen hat, das Leben der „Unteren“ gelebt hat und davon gezeichnet ist. Und eben das macht seine besondere Qualität als Schriftsteller aus und lässt ihn völlig anders schreiben als alle anderen. Marcello selbst ist kein Absolvent einer Filmhochschule und hat bisher bis auf eine Ausnahme nur Dokumentarfilme gedreht – es liegt nahe, sein Martin Eden als Programm des Autodidaktentums aufzufassen.
Ein Weiterleben wird unmöglich

Aber die Geschichte hat kein Happy End. Marcello hat sehr gut verstanden, dass es London um das notwendige Scheitern eines solchen Aufstiegs ging. Der Erfolg, den Martin mit seinem Schreiben schließlich doch noch bekommt, ist nämlich viel mehr durch Zufall verursacht als durch die quälende und verbissene Mühe, die am Anfang sein wahnsinniges Unterfangen angetrieben, ihn schließlich aber seine Lebensfreude gekostet hat. Das Problem der Klassenungleichheit ist im Film prägnant thematisiert – der Unwille der Gebildeten, einen Aufsteiger aufzunehmen, wie auch die zunehmende Selbstunterscheidung Martins von den Ungebildeten. Bis der Erfolg sich einstellt, ist Martin heftiger Vereinsamung ausgesetzt, die mit seiner Begeisterung für den Individualismus korrespondiert.
Doch der sozialevolutionistische Individualismus Herbert Spencers, der Martin so fasziniert, weil er ihn darin bestätigt, mit seiner mühevollen Angleichung an die Reichen und Gebildeten das Richtige zu tun, erweist sich als falsch. Die Welt ist in den Händen der Reichen und Gebildeten, sie belohnt keine Mühen und mag keine Immigranten. Martin erkennt die Verlogenheit der Welt vollends, als die Frau, in die er sich verliebt hatte und aus diesem Grund zu seiner Selbstbildung angetrieben wurde, zu ihm zurückkehren will, weil sie von seinem Erfolg gehört hat. Der Aufstieg hat zur Folge, dass er nun das wahre Gesicht nicht nur der unteren, sondern auch der oberen Gesellschaftsschicht kennt – eine Erkenntnis, mit der Martins Weiterleben unmöglich wird.
Der Film steht bis 07.05.2023 in der Arte-Mediathek.
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