Margaret – Kritik

Unabschließbarkeit des Kreises: Kenneth Lonergans zweite Regiearbeit hat nicht nur eine unendliche Produktionsgeschichte hinter sich, sein Film selbst ist unendlich.

Darren weint, unglücklich verliebt. Er bricht zusammen, nachdem Lisa (Anna Paquin) aufgelegt hat. Ein rascher Schnitt verhindert Betroffenheit. Auf Darren werden wir nicht mehr zurückkommen. Dies ist kein Episodenfilm. Er erzählt nicht parallel mehrere Geschichten. Der Mannigfaltigkeit des Lebens ist nicht durch ein breiteres Figurenensemble beizukommen. Dieser Film verweist vielmehr ständig auf die Ränder der von ihm konstruierten Welt, die nicht Mauern sind, sondern Zentren anderer Welten. Sein eigenes Zentrum ist Lisa, die aufgelegt hat. Um dieses Zentrum kreist Margaret, und Lisas Leben kreist um Lisa, schwindelerregend seit dem Autounfall.

Ereignis und Bedeutung

Margaret 10

Dieser Autounfall, im Kino so häufig funktionalisiert, angedeutet, symbolisch aufgeladen, ist bei Kenneth Lonergan zunächst grausam materiell. Keine familiäre Tragödie sorgt für die narrative Beruhigung, keine Schwarzblende für die filmische. Der Crash hat unmittelbare Folgen, ist noch längst nicht schmerzlicher Verlust und schwermütige Trauer. Jetzt liegt das Opfer verblutend auf der Straße, bei vollem Bewusstsein, ein Bein liegt daneben. Ein Leben, das sich nochmals aufbäumt und erst langsam auswirkt, diese Erfahrung injiziert dem noch jungen Leben eine Überdosis an Bedeutung. Lisa verspricht der sterbenden Frau, sie nicht loszulassen. Verwirrt spricht diese Frau von ihrer eigenen Tochter Lisa. Das verwirrt Lisa. Dann ist die Frau tot, das Mädchen allein mit der Welt, erschrocken über den Effekt des Unfalls wie über sein Zustandekommen.

Denn Lisas Verhältnis zum Unglück ist zugleich zufällig und determinierend. Sie ist irgendwie schuld am Tod dieser Frau, ebenso wie der Busfahrer (Mark Ruffalo), der die rote Ampel überfahren hat, weil er versuchte, mit der auf der Straße gestikulierenden Lisa zu kommunizieren, die von ihm wissen wollte, wo er seinen schicken Cowboyhut her hat, weil sie dringend einen braucht, für einen Reitausflug mit ihrem Vater, und weil sie in ganz New York keinen finden konnte. Eine endlose Kette von Kausalitäten, und dann ist Lisas Leben Drama, die Intensität des Kreisens erhöht, die Last auf sich geladen. Beim ersten Polizeiprotokoll am Unfallort sehen Lisa und der Busfahrer sich an, beide schweigen von ihrer Schuld. Doch bald wird Lisa zweifeln.

Teenage Opera

Margaret 07

Eine große Gewissensfrage steht damit im Raum – und bleibt dort, wird nicht zum abstrakten Thema, nicht zum Zentrum von Margaret. Moral ist von dieser Welt, angewiesen auf das objektive Ereignis wie auf die subjektive Deutung. Deshalb kreist der Film nach dem Ereignis um Lisa, ohne mit ihr zu verschmelzen, um Lisa, die bald zweifelt, die ihre Aussage zurückziehen will, die den Busfahrer aufsucht, die sich mit der besten Freundin der Verstorbenen, Emily (Jeannie Berlin), anfreundet, die sich hineinsteigert, wie Teenager das so machen. „Wir sind nicht alle Nebenfiguren im faszinierenden Drama deines Lebens“, wird ihr Emily deshalb vorwerfen, weil das Ereignis für die ältere Frau nicht die großen Fragen des Lebens aufwirft, sondern das persönliche Leben verändert, die deshalb irgendwann genug hat von dem enthusiastisch verzweifelten Mädchen. Zu Lisas Narzissmus verhält sich der Film neutral, für Lonergan ist die naive Teenager-Romantik zugleich aufrichtiger wie unmöglicher Wunsch nach Gerechtigkeit. Schon in der Figur der Lisa drückt diese Neutralität sich aus, weil der Film niemals um Zuneigung für seine Protagonistin wirbt. In ihrer Schulklasse ist Lisa weder die cleverste noch die hübscheste noch die witzigste, dabei nicht Stereotyp, sondern lebensechte Quersumme einer privilegierten Heranwachsenden.

Pathos nur beim Kotzen

Margaret 06

Flugzeuge fliegen immer wieder durchs Bild, in Richtung der Wolkenkratzer Manhattans, verschwinden dann aber nicht in, sondern hinter ihnen. Margaret ist auch Psychogramm einer Stadt nach dem Ereignis. Doch 9/11 ist bei Lonergan weniger konkreter Diskurs – auch wenn in Lisas debating class um die Ursachen islamistischen Terrors gerungen wird –, als die Nachbeben des plötzlichen Einbruchs von etwas Größerem, hinter dem sich doch nichts verbirgt als Kleines, unzähliges Kleines. Deshalb trifft der Begriff Allegorie auch nicht. Lisa symbolisiert nicht New York, New York symbolisiert keine Nation, Manhattan ist bloß gemeinsame Schnittfläche unzähliger Kreise: Die Dialoge tauchen unter im Gemurmel der Stadt, in den Gesprächen am Nebentisch, an dem die Schuldfrage des Busfahrers egal ist, was wiederum dem Sound Design egal ist. Selbst die Todesqualen nach dem Unfall werden nicht akustisch fokussiert, im Hintergrund das ewige Hupen der Autofahrer. Das hat weniger mit Dokumentarismus zu tun als mit dem eigenwilligen Denken eines Films, der erst im an das Ereignis anschließenden Kotzen auf dem heimischen Klo Geigen zulässt, in den Momenten, in denen nicht die materielle Welt erschüttert wird, sondern die Erschütterungen so stark nachwirken, dass sie gedeutet werden müssen.

Verloren im Orbit

Margaret 08

Margaret war noch Jahre nach der Fertigstellung im Jahre 2006 wegen Streitigkeiten zwischen den Verantwortlichen nicht öffentlich gezeigt worden, erst 2011 kam eine zweieinhalbstündige Version in die US-Kinos. Mittlerweile gibt es eine zweite, längere Variante des Films, die von Regisseur Lonergan aber weniger als Director’s Cut denn als komplementäre und gleichberechtigte Fassung bezeichnet wird. Und wie kann es auch eine „richtige“ Version dieses Films geben, dem es gerade nicht an Kohärenz gelegen ist, sondern am Aushalten ihrer Unmöglichkeit. Während Lisa diese Kohärenz sucht, in der Wahrheit des Ereignisses, in Ursache, Effekt und der Schuldfrage, macht der Film ihr Begehren erfahrbar und verweigert ihr zugleich seine Erfüllung. Das lässt ihn zugleich entrückt erscheinen wie Vorwürfe narrativer Konstruiertheit oder emotionaler Überdeutlichkeit ins Leere laufen. Der Status des Gedeuteten ist nebensächlich in einem Film, dem es ums Deuten selbst geht, um seine Notwendigkeit wie um sein notwendiges Scheitern.

Gerade Linien, klare Kausalitäten, die nicht von Brüchen heimgesucht werden, sondern in ewigen Kreisbewegungen verschwimmen. So wie Lisa an der Begradigung ihrer Geschichte scheitert, zwingt auch der Film dieser Geschichte keine lineare Struktur auf, sondern umkreist sie, lässt sich dabei ablenken von allem, was in Lisas Orbit so herumfliegt, dezentriert das Mädchen immer wieder, um benachbarten Kreisen folgen zu können. Margaret ist unfassbar, weil er immer irgendwo drinsteckt in diesem Chaos sich berührender Kreise, weil er kein Zentrum hat, weil seine Bewegung kein großes persönliches Schicksal erfahrbar macht, sondern das bescheidene Drama des Lebens – weil er potenziell unendlich ist. Nicht weil sich seine Handlung endlos weiterzählen ließe, nicht weil seine Figuren so lebensecht wären, dass wir ihnen noch ewig zusehen wollten, sondern weil in jeder noch so singulären Szene das Außen mitgedacht ist, weil nicht der Kreis, sondern das Kreisen Prinzip des Films ist, weil kein Satz, kein Gefühl, kein Bild etwas abschließt. Der abgeschlossene Kreis ist nur Schimäre, Subjektivität eine nicht verifizierbare Behauptung. So drohen wir zu verschwinden im Hin und Her zwischen Kontingenz und Kohärenz, zwischen Neutralität und Melodram, zwischen Welt und Lisa, kommen aus dem Kreisen nicht mehr heraus und können Darrens Tränen nicht vergessen.

Neue Kritiken

Trailer zu „Margaret“


Trailer ansehen (1)

Neue Trailer

alle neuen Trailer

Kommentare

Es gibt bisher noch keine Kommentare.






Kommentare der Nutzer geben nur deren Meinung wieder. Durch das Schreiben eines Kommentars stimmen sie unseren Regeln zu.