Malmkrog – Kritik
Neu auf MUBI: In Cristi Puius Malmkrog haben Philosophie und Theologie der Welt nichts mehr zu sagen, sondern untertiteln nur noch ihren Untergang.

Ganz am Schluss, in der am zweitwenigsten vorhersehbaren Handlung von Malmkrog, geht der russische Großgrundbesitzer und Gastgeber Nikolai (Frédéric Schulz-Richard) ab, um einen Text aus seinem Zimmer zu holen. Darin geht es um den Antichrist, über den Nikolai gerade doziert. Die Abendgesellschaft wartet, aber Nikolai wird zumindest in diesem Film nicht mehr wiederkommen. Stattdessen fragt sich Gast Edouard (Udo Broussot) vor dem Abspann noch, ob es an seiner schwindenden Sehkraft liegt, dass es keine hellen Tage mehr gibt, oder ob das Problem in der Welt selbst begründet ist.
Scholastische Geduld

Von diesem Schluss her lässt sich Cristi Puius neuer Film noch am ehesten aufdröseln: Da steht die herrschende Klasse also einmal selbst so ungeklärt im Raum wie zuvor nur die von ihr diskutierten Fragen, wartet auf einen Text zum Antichrist, während die Tage draußen dunkler werden, was man aber nicht sehen kann, weil die Jalousien schon heruntergelassen sind. Worte statt Taten, Texte statt Bilder, dieses Prinzip hat Malmkrog gerade drei Stunden lang durchexerziert. Auf dem Buch Drei Konversationen des russischen Philosophen Wladimir Solowjow basierend, besteht der Film fast ausschließlich aus philosophischen, politischen und theologischen Diskussionen im Duktus des 19. Jahrhunderts, vorgetragen von den fünf Anwesenden, von Tudor Pandurus Kamera in unterschiedlichen Distanzen, aber fast immer statisch eingefangen.
Auch wenn man gerade während eines Festivals gut daran tut, die persönlichen Mühen des Screenings nicht auf den Film zu projizieren: Ein Vergnügen im herkömmlichen Sinne ist Malmkrog nicht. Nikolai, Edouard, Ingrida (Diana Sakalauskaité), Olga (Marina Palii) und Madeleine (Agathee Bosch) sprechen – meist auf Französisch – ununterbrochen, führen mit scholastischer Geduld ihre Gedanken aus, lassen einander ausreden, haben Zeit, setzen nochmal neu an, wenn ein Diener mit einer Dienstleistung störte. Puiu hat natürlich mitgedacht, in was für eine Seherfahrung sich sein Film für die allermeisten Zuschauer damit übersetzen wird. Gott, Europa, Kultur, Fortschritt, Moral, Zivilisation, die großen Begriffe und ihre Verhältnisse zueinander sind irgendwann nur noch beliebiges Material für eine uns Festivalbesuchern allzu vertraute kulturelle Praxis: Untertitel lesen.
Dezentriertes Gerippe

Und das ist die Crux, denn natürlich lässt Puiu seine Figuren nicht drei Stunden lang über im wahrsten Sinne des Worts Gott und die Welt reden, damit wir mitdenken, abwägen, uns eigene Haltungen zum Wesen des Krieges, zu europäischer Identität, der Herkunft des Bösen, dem Sinn des Göttlichen erarbeiten. Auch wenn ununterbrochen geredet wird, auch wenn man nach drei Stunden das Gefühl hat, mindestens ein Buch gelesen zu haben, geht es in Malmkrog, ein bisschen wie bei Buñuel, weniger um die Substanz des Gesprochenen als um den Habitus der Sprechenden. Nicht umsonst sind die sechs Kapitel mit den Vornamen der Anwesenden betitelt. Jede von ihnen bekommt eines, nur das zweite ist dem leitenden Hausangestellten István (István Téglas) gewidmet. Hier ist die Kamera dynamischer, hier wird dann auch mal nicht nur gesprochen, sondern gerochen: am Tee, der irgendwie schlecht ist. Der dafür Verantwortliche wird von István geohrfeigt. Auch hier unten keine Hoffnung mehr: Service-Hierarchie statt Klassenbewusstsein in der Dienerschaft.
Wie schon in seinem letzten Film Sieranevada, in dem Puiu eine Familienfeier sezierte, gibt es auch hier kein stabiles Zentrum, umkreisen die Gebildeten ihre Themen wie ihre Bediensteten den Tisch, während die Kamera sich stets neu ins Verhältnis zum Geschehen setzt, immer mal wieder auch den Sprechern die Aufmerksamkeit verweigert. Es wird viel genippt und wenig gegessen. Bis auf eine, hinter der ein Oberst dahinsiecht, sind alle Türen offen, der Film durchlässig, nicht zuletzt für gegenwärtige Diskurse. Edouard (Udo Broussot) breitet seine Thesen von „kulturhistorischen Typen“ aus, erklärt nicht nur die russische Seele, sondern beschwört auch eine europäische Einheit, an der die Welt genesen soll, während in Nebensätzen die Türkei, China und Afrika auf ihre Zivilisierungspotenziale abgeklopft werden. Nur die pfiffigste von allen, Madeleine (Agathe Bosch), bezeichnenderweise selbst in ihrem eigenen Kapitel eher eine Randerscheinung, darf widersprechen, Amerika als anti-identitäres Gegenbeispiel in Stellung bringen und erklären, dass sie diese Kultur, von der Edouard da redet, irgendwie nicht fühlen kann.
Geschichte, Leinwand, Gegenwart
Unheimlich bewegt sich dieser Film zwischen historischer Buchvorlage und Sichtungskontext. Wladimir Solowjow, so weiß es jedenfalls das Internet, war in seinen letzten Jahr besessen von einer chinesischen Bedrohung, warnte die Landsleute vor einer bevorstehenden Invasion. Im Jahr seines Todes erschien die apokalyptische Kurzgeschichte „Tale of the Antichrist“, vielleicht der Text, auf den die Abendgesellschaft am Ende vergeblich wartet. Und einen Tag, bevor Edouard dem Berlinale-Publikum von der Leinwand erklärt, dass nur Europäer Kulturmenschen seien, die den Rest der Welt assimilieren müssten, hat ein Mann in Deutschland neun Menschen erschossen. In seinem Manifest steht, die Deutschen hätten „die Menschheit als Ganzes emporgehoben“, während asiatische und afrikanische Völker den Fortschritt eben dieser behinderten. Worte und Taten. Auch auf der Leinwand werden einmal unvermittelt Schüsse fallen, die Anwesenden gehen in Deckung, der Film scheint zusammenzubrechen. Eine Schwarzblende und ein kurzes Interlude im Schnee später folgt aber schon das nächste Kapitel, und man philosophiert weiter, und wir lesen wieder Untertitel, während die Tage dunkler werden.
Den Film kann man bei MUBI streamen.
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Kommentare
Michel
Ihr habt mit keinem einzigen Wort erwähnt, dass Puiu einer der wichtigsten rumänischern Regisseure der Gegenwart ist, der mit dem "Tod des Herrn Lazarescu" international bekannt wurde. Die Literaturvorlage ist russisch und stammt aus der Feder des russischen Philosophen Wladimir Solowjow. Aber die Handlung im Film findet im Siebenbürgen statt. Gruß an die Redaktion. Informiert euch besser.
Frédéric
Es wäre der Standardsatz gewesen, der in anderen Medien nicht fehlen darf. Nur: Die Prominenz des Auteurs zu erwähnen ist irgendwie auch ein bisschen abgestanden, oder? Der Philosoph wird erwähnt. Ist der Großgrundbesitzer nicht russisch? Oder worauf bezieht sich die Kritik?
2 Kommentare