Madame Hyde – Kritik
Und sie flammte. Der französische Regisseur Serge Bozon lässt einen Blitz auf eine Physiklehrerin einschlagen und reinszeniert den seltsamen Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde.

Man kann nicht zwei Personen gleichzeitig sein, sagt eine Nebenfigur trocken am Ende des Films, und liefert damit die Losung, gegen die Serge Bozon mit seinem Film wohl angetreten ist. Denn Madame Hyde lässt nicht nur Dr. Jekyll und Mr. Hyde aufleben, sondern ist auch in seiner filmischen Gestalt sowohl ein seltsamer Fall als auch ein Doppelgänger, eher: ein Dreifachgänger, sind es doch drei distinkte Genres, die der Regisseur unter einen Hut bringt, und zwar auf denkbar unharmonische Weise. Ähnlich seiner Hauptfigur und der literarischen Vorlage geht es Bozon nicht um ein glattes Ineinandergreifen, sondern um das Verkeilen, um das Spiel mit dem Bruch, mit dem Einbruch des einen Genres ins andere; die Künstlichkeit, die Abruptheit der Verwandlung der Hauptfigur spiegelt sich in der Gestalt des Films wieder.
Die komische Klasse

Da ist zunächst etwas, das man eine dokumentarische Fiktion nennen könnte. Bilder aus dem Schulunterricht, die an Laurent Cantets Die Klasse (Entre les murs, 2008) erinnern: ausgedehnte Aufnahmen der täglichen Begegnung im Klassenraum zwischen einer Lehrerin (Isabelle Huppert) und ihren Schülern, die Beständigkeit der Kamera gegenüber der Unbeständigkeit des Dialogs zwischen ihnen. Beide Filme zeigen, wie schwer dieser Dialog herzustellen ist, wie zerbrechlich er ist. Madame Hyde spielt in einer Schule in einem französischen Vorort – die verlesene Anwesenheitsliste ist eine Aneinanderreihung schwer aussprechbarer Namen – und leuchtet die Missstände präzise aus: das gebrochene Vertrauen darin, dass Bemühungen in der Schule sich später auszahlen; die geradezu beiläufige klassenbasierte Diskriminierung: „Theater, das ist nichts für die.“

In diesen Sozialrealismus platzt immer wieder die Komik. Dabei schont Bozon keine Figur davor, Witzträger sein. Keiner kommt gut weg, weder die, die die Autorität verkörpern sollen (insbesondere der schnittige Schulleiter, großartig gespielt von Romain Duris) noch die, die sich darin üben (der verschreckte Praktikant) noch die, die ihr ausgesetzt sind (die beiden Streberinnen, die immer synchron sprechen). Es ist interessant zu beobachten, was die Komik mit dem quasi-dokumentarischen Modus macht. Manchmal scheint sie sie aufzuheben, scheint sie die triste Milieustudie für einen Augenblick der Schwere zu entreißen. Eine relativierende Verschnaufpause, ein Sieg des Humors über die Widrigkeit des Lebens. Dann aber scheint sie selbst eine dokumentierende Funktion zu haben. Wirksam zeichnet sie die Lebensferne des Schulleiters auf, das Groteske eines rein theoretischen Physikunterrichts.
Die übernatürliche Verwandlung fragt nach der echten

Die eigentliche Handlung von Madame Hyde ist in einem dritten Genre angesiedelt, in das Isabelle Huppert mit der ihr eigenen Rätselhaftigkeit wunderbar hineinpasst. Sie spielt die Physiklehrerin Madame Géquil, eine triste, zerbrechliche Gestalt mit rotumrandeten Augen und pastellfarbener Kleidung, der die Angst vor der eigenen Klasse ins Gesicht geschrieben ist. Verschüchtert trappelt sie auf klackernden Absätzen durch die Schule und versucht vergeblich, sich Respekt zu verschaffen. Warum sie ein eigenes Labor in einem Container auf dem Schulhof hat, gehört zu den komischen und typischen Rätseln des Films, jedenfalls wird sie dort von einem Blitz getroffen und verwandelt sich daraufhin in die titelgebende Madame Hyde.

Was ist Madame Hyde? Die Frage stellt sich doppelt. Zum einen in Bezug auf die Figur, in die sich Madame Géquil nach dem Blitzeinschlag verwandelt; eine Figur, die von Ambivalenz gezeichnet ist und nicht einfach als Madame Géquils dunkle Seite abgetan werden kann. Die Frage stellt sich aber auch in Bezug auf den Film. Welche Rolle nimmt Madame Hyde in Madame Hyde ein? Interessant ist ja, dass das einschneidende Erlebnis in Gestalt eines Blitzeinschlags der Fantastik zuzuordnen ist, die von diesem Erlebnis eingeleitete Transformation aber auf zwei Ebenen stattfindet: Die eine bleibt ganz im Bereich des Fantastischen, die andere aber fügt sich mühelos in die Schulfiktion und dort in das bekannte Motiv des Lehrers, der kraft seiner pädagogischen Einwirkung die Lebensbahn einer seiner Zöglinge radikal zum Besseren verändert. Denn der Blitzeinschlag befähigt Madame Géquil erstmalig zu Höchstleistungen, insbesondere weckt sie in Malik (Adda Senani), ihrem einstigen Peiniger, die Lust zum Nachdenken und erste wissenschaftliche Ambitionen. Mit dieser hochgradig künstlichen Verwandlung stellt der Film die Frage nach echten Verwandlungen, nach dem Madame-Géquil-Anteil in Madame Hyde, nach dem, was es braucht, um Potential zu entfalten.
Alle Genres zufriedenstellen
Denn Veränderung, lehrt Bozon, geht niemals ohne Kosten vonstatten. Die neu gewonnene Energie bringt Madame Géquils Unterricht neuen Schwung, sie verwandelt sie nachts aber auch in einen glühenden, umherwandelnden Körper (auf die Spezialeffekte wurde nicht so viel Wert gelegt), dessen Berührung den Tod in Flammen verspricht. Warum der Regisseur das destruktive Potential von Madame Géquil unzertrennbar an ihr pädagogisches Potential gekoppelt hat, bleibt offen. Man könnte darin die Rache einer späten Ermächtigung sehen, die Rache einer Frau, der unter dem Deckmantel des Mitgefühls von allen Seiten zugeredet wird, sie sei ein wenig langsamer als die anderen. Aber auch die Verwandlung entbehrt nicht einer gewissen Komik: dass ausgerechnet eine Physiklehrerin Opfer eines übernatürlichen Phänomens wird, dass ausgerechnet die Eiseskälte ausströmende Isabelle Huppert zu einem glühenden Körper wird. Ganz im Sinne der Vielpersönlichkeit hält jedes der in Madame Hyde vertretenen Genres Erklärungen bereit.
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