Lurker – Kritik
In Alex Russells Lurker schleust sich ein obsessiver Fan in das Umfeld eines aufstrebenden Popstars ein. Die Geschichte von Freundschaft und Macht ist am stärksten, wenn sie die Motivationen ihrer Figuren behutsam in der Schwebe lässt.

Wann ist der richtige Zeitpunkt, um in einer neuen Freundschaft die Hosen herunterzulassen? Für Matthew (Théodore Pellerin) kommt er erstaunlich früh: Mehr oder weniger aus dem Nichts heraus wurde er von dem up-and-coming-Popstar Oliver (Archie Madekwe) zu dessen Konzert eingeladen, sogar zum Backstage-Bereich hat er Zugang bekommen. Da sitzen nun Oliver und dessen Kumpels mit den Hosen an den Fußknöcheln und fordern Matthew dazu auf, es ihnen gleich zu tun.
Dass die Situation Teil eines Spiels ist, begreift Matthew sofort. Dessen Regeln kennt er vorläufig zwar noch nicht, aber er ist wild entschlossen, sie zu lernen. Die Taktik, die er in der Hosenszene wählt, funktioniert, und sie wird ihm auch später im Film gut bekommen: auf Eskalation zu setzen, auf eine Grenzüberschreitung mit einer weiteren zu reagieren. Beherzt lässt Matthew nicht nur die Hose, sondern auch die Boxershort fallen – und die schockierten Reaktionen bestätigen, dass er diesen Aufnahmetest bestanden hat.
Kurz danach beobachtet Matthew Olivers Auftritt aus nächster Nähe, sein hingerissenes Gesicht erhellt vom Licht der Bühnenscheinwerfer. Er ist angekommen – und will nie wieder weg. Mehr erfahren wir in Alex Russells Lurker nicht über die Motivation der Hauptfigur, über die Gründe dafür, weshalb Matthew sich so beharrlich in Olivers Gefolge einzuschleusen versucht. Auf einer basalen, lebensweltlichen Ebene ist sein Handeln zumindest zu Beginn zwar durchaus nachvollziehbar: die Welt der Popmusik voller cooler Dudes, glamouröser Villen und (wobei das Matthew gar nicht so sehr zu reizen scheint) williger Frauen ist nun einmal aufregender als seine gewohnte Normie-Welt, in der er bei seiner Großmutter wohnt und in einem Kleiderladen arbeitet.
Intimität wird zur ungedeckten Währung
Dennoch bleibt Matthew durchweg eine schwer lesbare Figur. Ein schüchterner, ein wenig linkischer Typ mit einem kindlich anmutenden Gesicht, der sich in das Leben eines Anderen drängt, sich aber scheinbar mit der Rolle des bloßen Beobachters zufriedengibt. Eben ein “Lurker” – ein Begriff aus der Netzsprache, der sich auf Internetnutzer bezieht, die in Online-Communities alles fleißig mitlesen, aber selbst weitgehend passiv bleiben. Matthew ist ein ebensolcher Lurker, nur dass er diese Onlinetaktik ins echte Leben überträgt.
Soll heißen: Er beobachtet im Wissen, dass sein Beobachten ebenfalls beobachtet wird. Vor allem von Oliver, der von vielen Beobachtern umgeben ist, aber schnell bemerkt, dass Matthew ihn anders beobachtet als der Rest seiner Entourage. Und zwar buchstäblich anders: Bald hat sich Matthew in Olivers Anwesen einquartiert und filmt ihn und dessen Gefolge mit einer altmodischen Videokamera, die in einer Szene als porn cam bezeichnet wird. Deren raue Low-Fi-Bilder imponieren Oliver auf Anhieb – und schon hat Matthew einen offiziellen Auftrag: Er soll eine Behind-the-Scenes-Doku über den aufstrebenden Popstar drehen. Nur ein paar Filmszenen später scheint Matthew am Ziel zu sein, als Oliver ihn vor laufender Kamera zu seinem besten Freund erklärt.
Die Grenzen zwischen Freundschaften und Geschäftsbeziehungen sind in Lurker immer schon kollabiert. Freundschaft ist in der Welt des Films nur eine Währung, aber eine, die gleichzeitig schwer zu berechnen und leicht zu manipulieren ist: ein Überschuss an Intimität, der nicht durch echte Vertrautheit gedeckt und auch nicht (trotz durchaus komplexer Vibes zwischen Matthew und Oliver) durch Sexualität „beglaubigt“ ist, sondern der für die Beteiligten gerade aufgrund seiner Voraussetzungslosigkeit erstrebenswert erscheint.
Ausgeliefert an die Mechanik des Drehbuchs
Schön ist der Film, solange es ihm gelingt, die Beziehung zwischen den beiden Hauptfiguren in der Schwebe zu halten und neben den von Anfang an gähnenden Abgründen auch das utopische Potential von Freundschaft zu evozieren. Freilich kippt die Situation recht schnell – und während einer Londonreise schließlich irreversibel. Matthew muss erkennen, dass er, um dauerhaft im Abglanz Olivers baden zu können, den Einsatz erhöhen muss. Beobachten alleine genügt nicht. Er muss aktiv werden, um die Dynamik in Olivers Umfeld wieder zu seinen Gunsten zu verändern.
Wie weit wird der begnadete Manipulator Matthew gehen und wie wird sich dadurch sein Verhältnis zu Oliver verändern? Das sind die beiden Fragen, die Lurker im Folgenden antreiben. Was dabei jedoch immer deutlicher in den Blick gerät, ist die Konstruiertheit des Films. Russell hat sich, merkt man bald, sowohl seine Protagonisten als auch die Situation, in der sie sich befinden, etwas zu genau zurechtgelegt. Matthew ist creepy, aber kein offensichtlicher Psychopath; Oliver ist ein Narzisst, aber seine Verletzlichkeit ist nicht nur Show; und jedes Mal, wenn die zunehmend unwahrscheinlicher werdende Geschichte eine Sackgasse erreicht zu haben scheint, kommt die passgenaue Gelegenheit zur nächsten Grenzüberschreitung in den Film hineingeschneit. Dass Russell sich für seine Figuren wirklich interessiert, nimmt man ihm irgendwann schlichtweg nicht mehr ab – allzu gründlich werden sie schließlich an die Mechanik des Drehbuchs ausgeliefert.
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