Los Fantasmas – Kritik
Woche der Kritik 2020: Mit blutig geschlagener Visage lässt sich weder als Sexarbeiter noch als Tourguide Geld verdienen. Los Fantasmas erzählt von Jenseitsgestalten, die man nicht alle nur im Dunkeln trifft.

Ein Gespenst geht um in Guatemala-Stadt. Nein, eigentlich sind es zwei Gespenster, die der junge Koki (Marvin Navas) gerade durch das Schlafzimmerfenster seiner Freundin Sofía (Daniela Castillo) erspäht haben will. Seit seiner Kindheit, sagt er, suchten ihn solche Erscheinungen heim, ohne dass er wüsste wieso. Vielleicht würde Sofía das auch eines Tages erleben? Sie kichert verlegen und stellt dann bestimmt fest: Mir wird das nicht passieren.
Maskerade und Männlichkeit
Jenseitsgestalten sind in Los Fantasmas nicht nur im Dunkeln zu erblicken. In seiner Freizeit mimt der Hotelrezeptionist Carlos (Carlos Morales) beim Lucha Libre den Wrestler El Punisher. Carlos’ Vorbereitung und der Kampf in der Anfangsszene exponieren visuell die Themen Maskerade und Männlichkeit sowie die Frage, ob unsere Augen wirklich immer „die Realität“ erkennen können: Die sogenannten Luchadores tragen nämlich bei ihren choreografierten Schaukämpfen leicht wiedererkennbare Masken oder, wie Carlos, Schminke und unterstreichen damit ihre stereotyp guten oder bösen, hypermaskulinen Charaktere. El Punisher schminkt sein Gesicht als schwarz-weiß bandagierten Totenkopf, dessen Silhouette auch sein restliches Kampfoutfit ziert. Sein Gegner trägt dagegen ein Batman-Bandana, die Rollenverteilung scheint also von vornherein festgelegt.

Die gleiche Rolle ließe sich Carlos zuschreiben, als er seine Zweckbeziehung zu Koki – wortlos, wie so vieles in Los Fantasmas – aufkündigt. Als Sexarbeiter bringt der alleinerziehende Vater Koki seine Kunden in das Hotel von Carlos. Carlos vermittelt Koki im Gegenzug Führungen für Hotelgäste durch die Straßen der Stadt. Aber ein Kunde schlägt Koki brutal zusammen, denn bevor der sich im Halbdunkeln wieder hinausschleicht, beklaut er regelmäßig seine Kunden. Und mit blutig geschlagener Visage lässt sich weder als Sexarbeiter noch als Tourguide Geld verdienen. Dass für den aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Koki Sex mit Männern kein Verlangen, sondern Zwang ist, wird deutlich, als er sich nach einem seiner Dates mit Freunden zum Billardspielen trifft: Mit vagen Ausflüchten überspielt er sein Zuspätkommen, ignoriert seine Freundin Sofía, die unbeteiligt an der Seite steht, und begegnet dem kameradschaftlichen Körperkontakt mit sichtlichem Unbehagen. Schließlich entflieht er der unangenehmen Situation, weshalb ihn seine Freunde unbedarft als schlechten Verlierer abtun.
Klare Kontraste verwischen
Gemein ist Koki und Carlos also eine pragmatische Haltung zum Geldverdienen. Carlos’ blutende Platzwunde nach dem Eingangskampf und Kokis geschwollenes und verletztes Gesicht nach der Schlägerei sind beides Resultate der Gewalt, die einem Leben in idealisierten Rollen und in Geldnot inhärent ist. Deutlich zeigen sich hier aber auch ihre Unterschiede: Die Maskenwunde von Koki wirkt ungleich fassbarer als die schwarz-weiße Schminkmaske. Carlos’ blutende Platzwunde dient der dramatischen Choreografie des Lucha Libre, seinen Kampf gewinnt El Punisher am Ende doch. Der Überfall auf Koki hat für diesen weitaus existenziellere Konsequenzen: Ohne Job verfolgt er aus der Entfernung seinen schnell gefundenen Ersatz, der dazu auch noch bei den Tourist*innen besser ankommt. Seinen geschundenen Körper tastet er immer wieder ab, wie um sich selbst zu vergewissern, dass er noch aus Fleisch und Blut besteht. Dennoch entscheidet er sich, seine Verpflichtungen in der Großstadt hinter sich zu lassen, indem er mit einem wehmütigen Blick zurück auf die nächtliche Ciudad de Guatemala, unterlegt von einer koreanischen Coverversion des Liebesliedes „Cucurrucucú Paloma“, zum Lago de Atitlán hin verschwindet.
Los Fantasmas verwischt oft klare Kontraste mit seiner Lichtgestaltung, denn die meisten Szenen spielen nachts oder in spärlich beleuchteten Innenräumen, so lassen sich Details manchmal leicht übersehen. Diffus bleiben ebenfalls die Nebenfiguren, über die der Film nicht viel verrät: Sofía hat, ihrer Wohnung nach zu urteilen, ein wesentlich besseres Auskommen als Koki. Ihre Zeit verbringt sie meist alleine zu Hause oder im Klamottenladen, in dem sie arbeitet; was ihr, so wie die Beziehung zu Koki, nicht zu genügen scheint. Wenn Carlos nicht gerade seine Trophäensammlung poliert oder Wrestling-Kleidung wäscht, trifft er sich wortkarg im Hotel oder einer Bar mit Sandra (Sandra Guerra), bei der nicht klar ist, ob sie als Sängerin oder womöglich Sexarbeiterin tätig ist. Lojo wahrt damit eine abgeklärte, beobachtende Distanz zu seinen Figuren, die sich in zumeist festen Kameraeinstellungen und häufiger Stille ausdrückt. Die sparsamen Dialoge wirken oft wie zufällig überhört, sodass der Film bisweilen dokumentarisch anmutet.

Doch dabei geht es nicht um die detaillierte Darstellung eines spezifischen politischen oder gesellschaftlichen Kontextes. Guatemala-Stadt fungiert hier vielmehr als Kulisse für die Entfaltung von Lebensrealitäten des Prekariats im Globalen Süden. Vor dieser Kulisse kristallisiert sich im Laufe des Films noch eine weitere Erkenntnis heraus: Während Lojo Kokis Ringen mit finanziellen und persönlichen Nöten in den Vordergrund stellt und gleichzeitig den Freizeitwrestler Carlos als vermeintlichen Antagonisten positioniert, weist er mit Sofía und Sandra auf eine Leerstelle hin. Denn obwohl einige Szenen die beiden Frauen fokussieren, bleiben sie – besonders Sandra – doch nicht greifbar. Die heimsuchenden Gespenster lassen sich so nicht nur als Metapher für (latent drohende) Armut verstehen, sondern ebenso für die Unsichtbarkeit von Frauen* in männlich dominierten Gesellschaften.
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