Liberté – Kritik
MUBI: Im Wald die Beine breit machen, den Po emporstrecken für die Peitsche, bluten und leiden und genießen. Albert Serra beschwört die Kräfte der Zügellosigkeit auch in seinem Kinofilm Liberté – je beklemmender es wird, desto betörender wirkt es.

Dieser Film könnte nicht heute spielen. 1774 ist er angesiedelt, die Protagonisten, viel erfahren wir nicht über sie, sind vom Hof von Ludwig XVI. geflohen und suchen in Preußen, irgendwo zwischen Potsdam und Berlin Zuflucht. Wie schon im Theaterstück gleichen Namens, das letztes Jahr an der Volksbühne Berlin entstand, spielt Helmut Berger auch im Kinofilm Liberté den Herzog von Walchen, bei dem die Franzosen Schutz und Vermittlung suchen. Er versagt sie ihnen, so beginnt der Film. Und gibt kurz darauf jede narrative Verdichtung auf, um sich vollends der Libertinage hinzugeben. Sehr viel experimenteller und sehr viel expliziter als im Theaterstück setzt Serra Körperlichkeit vor malerische Kulissen, um zu erkunden, welche Blicke darauf möglich sind.
Lebendigwerden eines Möglichkeitsraums

Dieser Film könnte nicht heute spielen, weil erst die historische Distanz, die gefühlte, ja sichtbare Andersartigkeit von Sprache, Kostüm, Auftritt es ermöglicht, aus sicherer Entfernung eine neugierige Offenheit zu entwickeln. Sexuelle Devianz und das Freimachen von Dogmen respektablen Verhaltens sind offensichtlich kontextabhängig. Die zunächst vor allem homosexuellen Annäherungen, das Cruising im Wald und in der Lichtung sind natürlich eine Erscheinung bestimmter Epochen und Gesellschaften. Im historischen Gewand nimmt das Ausagieren bestimmter Fetische oder, im Freud’schen Sinn, Perversionen aber noch dazu wie von selbst eine andere Gestalt an. Wenn auf einen armamputierten und im Gesicht verunstalteten Mann gepinkelt wird und er das genießt, dann mag die Aufnahme davon so oder so wie eine Herausforderung wirken, das Hinschauen auszuhalten. Doch die zeitliche Verortung im ausgehenden 18. Jahrhundert fügt dem eine Qualität des in jeder Hinsicht Entrückten hinzu, prägt den Eindruck, einer von Darstellern verkörperten und durch sie gelebten Fiktion beizuwohnen.

Der eigene Blick darauf mag anthropologisch oder retrospektiv sein, die Perspektive, die Liberté sucht, ist das Lebendigwerden eines Möglichkeitsraums, der erst aus dem Setting und der filmischen Komposition heraus entsteht. Die Protagonisten sind ihre Körper, sind die eigenartigen Gesichter, sind die individuierenden Geschlechtsteile, sind die Formen der Vaginen und Penisse, sind die großen Augen, die dicken Bäuche. Die Protagonisten sind zugleich aber die Kostüme, die weiße Schminke im Gesicht, die Perücken, ausgemacht werden sie genauso durch die Sänften, in denen sie sitzen, um zu sprechen, um stimuliert zu werden, um zu foltern und gefoltert zu werden. Die Protagonisten werden zu den Protagonisten vor allem durch das Licht, in der scheinbar unendlichen Nacht, in der alles erlaubt und der Exzess Programm ist.
Maximal undefinierter Wald

Eine im engeren Sinne fortschreitende Handlung gibt es nicht, sehr wohl aber ist der Exzess bei Serra rhythmisiert, samt Crescendo. Die Intensitäten sind wechselhaft, und die größte Intensität erlangen Szenen durch ihre Länge. Erscheint auch mancher Exzess, ein Peitschenhieb oder eine blutende Arschbacke plötzlich im Bild, aus dem Nichts kommt er nicht. Ohnehin sind die Modulationen von rätselhaft gesetztem Licht und maximal undefiniertem Wald auf die subjektive, einmalige Erfahrung ausgelegt, die das Schweben von einem Bewusstseinszustand zum nächsten nahelegt. Liberté bietet sich nicht zum Entschlüsseln, nicht zum Lesen oder Verstehen an, sondern zum Driften. Das Denken folgt daraus ohnehin.

Abstrakt und ortlos kann das wie schon im Theaterstück berückende Szenenbild wirken, im Wortsinn utopisch. Weil es im Kino alles andere als selbstverständlich ist, bleibt womöglich das Explizite an den Geschlechtsspielen in Erinnerung – und alles, was man mit den Schriften von Marquis de Sade in Verbindung bringt. Nicht, dass Zärtlichkeiten im Vordergrund stünden, denn Liebe hat in Liberté eher keinen Platz, aber die Intimitäten und Sexualitäten, die Form annehmen, beginnen oft mit dem Stoff des Kostüms. Männer streicheln sich über die Hose, und ob sich darunter eine Erektion verbirgt, muss nicht aufgelöst werden.
„All das ist innerlich!“

Die Nichterektion ist denn auch eines der wiederkehrenden Motive in Liberté, das lange Zeit unkommentiert, im Hintergrund und im Schatten bleibt, eine Selbstverständlichkeit längerer Orgien, bis es Teil eines Machtspiels zwischen Frau und Mann wird. Er ist schlaff, sie zu ihm: „Jeder Affe kriegt einen besseren Ständer als Sie. Ich langweile mich.“ Und nach einer Weile, sie dreht sich auf den Bauch, streckt ihren nackten Hintern empor: „Ich biete jetzt meinen Hintern an. Worauf warten Sie, ihn zu stopfen?“ Serra macht sich aus Erniedrigungen einen Spaß, aber nie auf Kosten der Erniedrigten. Das Spiel ist plump, Vulgarität der Nachbar von Sakralität.
Erniedrigungen sind Teil einer Komik des ins Begehren eingeschriebenen Scheiterns und der Offenheit der Deutungen, wo Begierde anfängt, aufhört und was sie aushält. In Liberté brauchen Handlungen kein Ziel, Bewegungen schreiten nicht voran, Stimulation kommt ohne Befriedigung aus. Einer schreit einmal bedeutungsschwanger über eine erneut ausbleibende, aber von anderer Seite erwartete Erektion: „All das ist innerlich!“ Das ist sicherlich in dieser Grundsätzlichkeit Quatsch, aber gerade weil bei Albert Serra alles äußerlich ist, lässt es sich so leicht nach innen kehren, auf sich beziehen, einatmen, ohne es wieder auszuatmen. Luft holen kann man, wenn man danach aus dem Kino taumelt.
Den Film kann man bei MUBI streamen.
Zu unseren Texten über die Bühnenversion von Liberté geht es hier und hier
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