Leave No Trace - Meine Wildnis – Kritik
Debra Granik erzählt in ihrem neuen Film von der fragilen Harmonie einer Vater-Tochter-Beziehung. Mäandernd zwischen Coming-of-Age und Kriegstraumata dreht sich Leave No Trace um eine alternativlose Flucht vor der Gesellschaft.

Die Abzweigung, die Will (Ben Foster) nimmt, führt nicht in die Stadt. Eigentlich ist es nicht einmal eine Abzweigung. Will verlässt den Pfad, kämpft sich durch Gestrüpp und verschwindet schließlich in den Wäldern. Will lebt mit seiner Tochter Tom (Thomasin McKenzie) in einem Nationalpark. Fernab der Zivilisation unterrichtet der Vater das Mädchen, geht mit ihm auf Nahrungssuche und teilt ein Zelt mit ihm. Das Vater-Tochter-Gespann, das im Zentrum von Debra Graniks Leave No Trace steht, hält sich standhaft gegen die äußeren Bedrohungen, sei es das Überleben außerhalb der Zivilisation an sich oder gar die völlige Zerstörung des Wildnis-Refugiums durch die Polizei. So beständig und eingespielt die Außenwelt abgeschirmt wird, so eruptiv wirkt die kleinste Veränderung innerhalb der Beziehung im Inneren. So ist es nicht der Zugriff einer Polizeieinheit oder eine Verhaftung, die das Familiengefüge auseinanderreißt, es ist ein kleiner Anhänger, der in einem flüchtigen Moment eine winzige Abweichung markiert und die Harmonie das erste Mal ins Wanken bringt.

Tom entdeckt den Anhänger bei einem Ausflug in die nahe Stadt. Sie darf ihn behalten, aber nur wenn er bei ihrer Rückkehr noch immer auf dem Waldboden liegt. So lässt Tom ihn kurzerhand unter einem Farn verschwinden, wird vom Vater ermahnt, ihn genau dort hinzulegen, wo sie ihn gefunden hat, und bedeckt ihn, als der Vater sich abwendet, mit Erde. Was herkömmlichen Familiengefügen eine absolute Banalität wäre, ist für die fragile Vater-Tochter-Beziehung ein Paradigmenwechsel. Der absolute Gehorsam, die unabdingliche Ehrlichkeit, die das Leben abseits der Zivilisation verlangt, wird von der Tochter erstmals infrage gestellt. Tom wird erwachsen. Schon in der Zivilisation eine Belastung für das Verhältnis zu den Eltern, wird Toms Adoleszenz für den Lebensentwurf des Vaters eine kaum zu stemmende Last.
Flucht vor der Tannenernte

Was sich direkt zu Beginn des Films abzeichnet, steuert nicht unausweichlich auf Toms Abkapselung oder ein Zerwürfnis mit ihrem Vater zu. Die Geschichte, die auf Peter Rocks Roman My Abandonment basiert, lässt den Lebensentwurf nicht plötzlich in sich zusammenfallen. Vielmehr drängt sich sukzessive die eigentliche Tragödie in den Vordergrund. Nachdem sie der Polizei gemeldet werden, übergibt man Tom und Will an ein soziales Wiedereingliederungsprogramm. Die Tochter geht zur Schule, während Will bei der Tannenernte hilft. Geometrisch präzise aufgereihte Tannen werden gestutzt, beschnitten und nach Kalifornien verkauft. Schweres Gerät fällt die Tannen, Helikopter transportieren die Ernte – der Wald ist hier ein Industrieunternehmen, dessen Lärm Wills Gedanken täglich an die traumatischen Erfahrungen des Kriegs erinnert. Der autarke Lebensentwurf des Vaters ist nämlich kein Gegenmodell zur Konsumgesellschaft, keine esoterische Alternative, sondern das Resultat einer Alternativlosigkeit, eine seit dem Krieg und dem Tod der Frau andauernde Flucht vor der Gesellschaft. Leave No Trace erklärt diesen Zustand nicht nur zum individuellen, sondern auch zum gesellschaftlichen Phänomen: In gleich zwei Bundesstaaten treffen Will und Tom auf kleine Veteranen-Gemeinschaften, die ihre Camps am Rande von Nationalparks aufgeschlagen haben.
Bewegung fernab von Ballungsräumen

Debra Granik balanciert mit leisem, aber nie pathetischem Ton und einer weit mäandernden Erzählung zwei soziale und erzählerisch grundverschiedene Lebensrealitäten. Was Coming-of-Age und das Kriegstraumamotiv perfekt in der Waage hält, ist nicht etwa eine fein geschliffene dramaturgische Gewichtung, sondern vielmehr die vorbehaltlose Empathie, mit der Granik von der Flucht aus der Gesellschaft und der Hinwendung zu ihr erzählt. Das Band, das Vater und Tochter zusammenhält, wird nie der Dramaturgie geopfert. Der Film folgt Wills erratischer Fluchtbewegung, fernab jedes Ballungsraums, stellt dieser Bewegung aber nie ein geeigneteres Lebensmodell entgegen. Die Tragik, die Leave No Trace durchzieht, liegt nicht darin begründet, dass die Entwicklung von Tochter und Vater in entgegengesetzte Richtungen führen. Sie liegt in der Erkenntnis, dass ein Kriegstrauma keine heilbare Krankheit, kein vergänglicher Umstand und kein Einzelschicksal ist. Und das Heranwachsen keine umkehrbare Bewegung.
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Kommentare
fifty
Stimmt! Der Film ist unglaublich empathisch. Es lohnt sich diesbezüglich auch nachzuspüren, wie gerade die kleinsten am Rand vorkommenden Figuren und Szenen wirken, da ist eine geradezu dokumentarische Nähe. Und zusätzlich hat der Film (dank der Romanvorlage?) ein viel schlüssigeres Ende als etwa „Captain Fantastic“ von Matt Ross, der zwar herzerwärmend schön, aber leider wirklich ein bisschen opportunistisch und pathetisch ist. Ein reines Happy End scheint auch unangebracht bei dieser Thematik, denn wovor man flieht, ist ja selten eine Sache der Freiwilligkeit. Wer diese Tatsache übrigens nur ein klitzekleines bisschen weiter in die Zukunft einer Distopie verlagert sehen will, sollte “The survivalist“ von Stephen Fingleton, „Into the forest“ von Patricia Rozema oder „the road“ von John Hillcoat sehen.
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