Glücklich wie Lazzaro – Kritik

Alice Rohrwacher hat mit Glücklich wie Lazzaro einen sagenhaften Film über die Wiederkehr eines Heiligen gedreht.

Ein schmaler Bach trennt die eine Welt von der anderen. Diesseits seines Ufers scheint der Weltlauf nur gebremst vonstatten gegangen zu sein. Hier steht ein Herrschaftshaus – schmal, aber hoch gebaut, die Decken und Wände sind mit Fresken übersät, hinter antiken, oxidierten Spiegelschränken liegt das Silberbesteck, mit dem die hier residierende Adelsfamilie ihre nach strengen Regeln servierten Menüs zu sich nimmt. Handyempfang gibt es keinen, selbst wenn man die Antenne aus den knochigen Mobiltelefonen herauszieht – und auch abgesehen davon gibt es keinen Kontakt dieses Diesseits mit der Außenwelt, jenen vorerst völlig unentdeckten und unentdeckbaren Gebieten jenseits dieses Flüsschens, das für die etwa 30 Bauern (Frauen, Männer, Alte und Kinder) eine mythische Barriere darstellt. Jenseits dieses eigentlich problemlos zu überwindenden Bachs ist die Welt zu Ende. Niemand zweifelt daran, niemand kam je auf die Idee, das knöchelhohe Gewässer zu durchwaten, hinüberzureisen ins ganz und gar Andere.

Sehen ohne Wiederkehr

Auch der junge Lazzaro (Adriano Tardiolo) lebt unter den Bauern und Feldarbeitern, die hier von einer fies-bebrillten Gräfin (eine Protofaschistin) versklavt wurden. Ein Aufstand von unten ist ausgeschlossen, zu ausgeklügelt ist das System der Ausbeutung, das diese Gräfin innerhalb ihrer Arbeiter-, ihrer Sklavenschaft etabliert hat. Lazzaro ist der Schlusspunkt der Repressionskette: Ständig wird sein Name gerufen, ständig wird er herbeigeholt für jede Art von anstehender Arbeit, ob für das Bewachen des Hühnerstalls, die Zubereitung eines Kaffees für den Sohn der Gräfin, für die Ernte oder um die Großmutter ins Bett zu tragen. Lazzaro selbst besitzt kein Bett, er besitzt auch keine Eltern, er besitzt nichts. Selbst auf die kleine Felsnische, die er sich mit einem Kaffeekocher und einer Decke eingerichtet hat, jener schmale, unüberdachte Rückzugsraum, in dem er sein Alleinsein pflegt, erhebt er keinen Anspruch. Lazzaro ist ein Geber, ein Darbieter – und gerade weil er nie etwas in seinem Leben besessen hat, hat er auch keinen Begriff vom Nehmen, vom Haben, vom Eigenen, vom Kapital. Sein Blick ist ein Wurf des Sehens ohne Wiederkehr; sein Blick ist frei von jeder Selbstbezüglichkeit: naiv und duldsam, spendend, nicht empfangend – der Blick eines Heiligen.

Eine himmelstonale Frequenz

Genau das ist Alice Rohrwachers Glücklich wie Lazzaro: eine Heiligengeschichte, ein filmisches Gleichnis über die Bewegung des Gebens, ohne zu nehmen, über das innerste Gesetz der Spende, wenn man es biblisch ausdrücken will, was man ohne Weiteres tun kann. Und das Sagenhafte (im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne) ist, wie sehr es Rohrwacher gelingt, diese Heiligen-, diese Lazarusgeschichte aus dem Boden einer halb gegenwärtigen, halb zeitlosen norditalienischen ruralen Welt sprießen zu lassen, ohne sie auf der einen Seite in einen rätselspaßigen Symbolismus zu überführen und auf der anderen Seite zum Sozialrealismus (etwa der italienischen Schule) zu säkularisieren. Dieser Film ist das Durchhalten einer Art himmelstonalen Frequenz: vernehmbar, aber ungreifbar, unmessbar. Ein ständiger Zusammenklang der Bedeutungsebenen (das Heilige und das Irdische), der Weltprinzipien (das Mythische, das Faschistische, später das Finanzkapitalistische), der Logiken (das Diesseitige, das Jenseitige, das Leben, das Sterben, das Auferstehen). Glücklich wie Lazzaro ist von einer unheimlichen und einer unheimlich schönen, virtuosen Musikalität durchwoben, von einer einzigartigen Vielklanglichkeit.

Bewegung ins Andere

Irgendwann wird der Bach dann doch überschritten. Die Faschistin wird verhaftet, und die Bauern waten hinüber ins Jenseits, ins Andere. Die Kamera zeigt uns den Übertritt von oben, dann fliegt sie durchs Gebirge, fliegt über Gipfel hinweg. Unter ihr liegt eine uralte Zeit; die Zeit eines über Jahrmillionen gefalteten Gesteins. Vielleicht ist das die Zeit, die der Heilige nahm, um wiederzukehren, eine Zeit, in der der Heilige sein Heiligsein vergaß und so zum Bauern wurde. Der zweite Teil dieses Films führt uns in die Großstadt, in den Zwischenraum zwischen Zubringertangente und Güterzugtrassen. Hier leben die Kinder von damals als Erwachsene, in einem zum Wohnraum ausgebauten Silo; sie wurden zu Bettlern und Dieben, zu den Marginalisierten der bankenbebauten Gesellschaft. Lazzaro findet zu ihnen, lebt mit ihnen. Die Welt ist jetzt eine andere, das Alter ein anderes, das Wetter ein anderes, der Lärm ein anderer, die Armut eine andere, die Unfreiheit eine andere; und doch gibt es Wiedererkennungen durch all diese Andersheiten hindurch: Lazzaro erkennt Antonia (Alba Rohrwacher) wieder, Antonia erkennt ihn wieder. Die Menschen sind andere, aber das zwischen ihnen ist unverändert.

Die Musik verlässt die Orgel

Einmal betritt diese Gemeinschaft der Randgestalten eine Kirche. Oben auf der Empore dröhnt die Orgel. Eine Ordensschwester wirft sie hinaus, meint, das Gotteshaus sei geschlossen, ein andermal könnten sie wiederkommen. Lazzaro blickt hinauf auf die Empore, dreht sich um und verlässt den Raum. Die Orgel verstummt, ist luftleer, unter den Manualen sind die Töne verschwunden. Die Musik entweicht der Kirche, klingt über Lazzaros Kopf wie eine Himmelsmusik. Ein Gottesgeschenk. Lazzaro hat sie nicht gestohlen, denn sein Blick stiehlt nicht. In diesem Film ist Gott erschienen. Und Rohrwacher gelingt es nicht nur, diese Epiphanie mit einer unglaublichen Gelassenheit über ihren Film hereinbrechen zu lassen; es gelingt ihr mit dieser Szene wahrscheinlich auch der schönste Moment in diesem Jahr in Cannes.


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