Land of Dreams – Kritik
Eine junge Iranerin jagt in jedem Winkel der USA nach den Träumen ihrer Bewohner. Die Fotografin und Videokünstlerin Shirin Neshat schafft in Land of Dreams eine Parallelwelt, um ihre Erfahrungen als Immigrantin zu bebildern.

Auf dem Filmplakat schimmert der blaue Himmel New Mexicos. Eine Frau läuft einen verlassenen Highway entlang, umgeben von verdorrtem Gras und Stromleitungen; ihre schwarzen Haare und ihr schwarzes Kleid wehen leicht im Wüstenwind. Vor ihr schwebt, an zwei dünnen Seilen hängend, ein großer, rechteckiger Spiegel, der die Landschaft hinter ihr reflektiert. Die Spiegelung unterscheidet sich kaum von dem, was vor ihr liegt – auf den ersten Blick könnte es ein Fenster zur anderen Seite sein, doch ist ein klarer optischer Bruch zu erkennen, wo der Spiegel beginnt. Eine kleine, wehende US-Flagge auf der Oberfläche verdeutlicht die Metapher noch: Land of Dreams möchte einer gespaltenen amerikanischen Gesellschaft den Spiegel vorhalten. Dabei lässt sich ein wichtiges Detail leicht übersehen: Die Frau wird vom Spiegel nicht reflektiert – sie erkennt sich im amerikanischen Bild nicht wieder.
Reflexionen des Unbewussten

Mit dieser Figur, der jungen iranischen Immigrantin Simin (Sheila Vand), hat sich die Fotografin und Videokünstlerin Shirin Neshat einen Avatar geschaffen, den sie in ein futuristisches, entrücktes Amerika setzt. Neshat selbst ist im Alter von 17 Jahren in die USA ausgewandert. In einem Großteil ihrer Arbeit widmet sie sich der Rolle der Frau im Iran, etwa in ihrer Fotoreihe Women of Allah (1993–1997) oder ihrem ersten Spielfilm Women without Men (2009), mit dem sie den Regiepreis bei den Filmfestspielen in Venedig gewann. In der surrealen Satire Land of Dreams richtet sie mit ihrem Partner und Co-Regisseur Shoja Azari ihren spezifischen, migrantischen Blick auf die amerikanische Gesellschaft.

Die junge Simin betrachtet die Welt durch große, wachsame Augen. Sie arbeitet für die wichtigste Regierungsbehörde einer unbestimmten nahen Zukunft, das Zensusbüro, in dessen Auftrag sie als sogenannte Traumfängerin jeden Winkel der USA bereist. Menschen aus allen Gesellschaftsschichten öffnen sich ihr und berichten von den surrealen Reflexionen ihres Unbewussten. Weil Simin die beste ihres Fachs ist, bekommt sie von ihrer Chefin Nancy (Anna Gunn) einen Sonderauftrag: Begleitet vom – passend benannten – Polizisten Alan Villin (Matt Dillon), soll sie eine Enklave ehemaliger iranischer Revolutionskämpfer mitten in der Steppe New Mexicos infiltrieren, um deren Träume zu kartieren.
Alternde Ikonen des amerikanischen Traums

Derzeit wenden sich einige Filmemacher*innen einem surrealistisch geprägten Kino zu. Erst vor wenigen Tagen ist das kryptische Drama Earwig (2021) von Lucile Hadzihalilovic auf MUBI veröffentlicht worden. Land of Dreams folgt einer teils ähnlichen Traumlogik, ist aber im Vergleich zum unnahbaren Earwig deutlich zugänglicher, empathischer und … nun, verträumter. Shirin Neshat hat eine amerikanische Parallelwelt erschaffen, um ihre eigenen Erfahrungen und Beobachtungen als iranischstämmige US-Bürgerin zu bebildern. Ihren ersten Besuch stattet Simin einem wohlhabenden Ehepaar ab. Betty (ebenfalls Anna Gunn) ähnelt einer alternden Marilyn Monroe, Bob (Christopher McDonald) ist ein breit grinsender Colonel Sanders. „Vorgestern Abend habe ich geträumt, dass ich im Bett liege und mich nicht bewegen kann“, erzählt Betty, „Und mein ganzer Unterkörper war komplett rot.“ Zwei alternde Ikonen des amerikanischen Traums in Angst vor der eigenen Ohnmacht. „Wenn man sich an einen Traum nicht direkt erinnert, dann ist es kein Traum mehr“, erklärt Simin dem jungen Poeten Mark (William Moseley). „Und was ist es dann?“, fragt Mark, der sich Hals über Kopf in Simin verliebt. Ihre Antwort: „Eine Geschichte.“

Die Abstraktionen in Land of Dreams geschehen in Form von poetischen Vergleichen. Dabei folgt das Drehbuch – das Azari, basierend auf ihrer eigenen Vorlage, gemeinsam mit dem 2021 verstorbenen Jean-Claude Carrière geschrieben hat – einer Verkörperungslogik: Der poetische Mark verkörpert einen jungen, amerikanischen Idealismus; die verschlossene Kolonie in der Wüste verkörpert Simins unterdrückte Identität, A verkörpert B. Auch die Aussage, die US-Behörden wollten die Träume der Bevölkerung kontrollieren, besitzt eine Buchstäblichkeit, die sich schon im Filmplakat andeutet. Dadurch schafft der Film zwar eine Interpretationsebene, wird aber damit nicht unbedingt vielschichtiger, weil die Symbole in einem Eins-zu-Eins-Verhältnis zu ihren Aussagen stehen. Letztlich stellt Land of Dreams nicht so sehr Fragen, sondern trifft Aussagen, bebildert in episodischen Tableaus, durch die sich Simin wie in einem Traum bewegt. Monroe und Sanders verstecken sich hinter VR-Brillen, eine Countrysängerin trauert in einem Truckstop ihren verlorenen Träumen nach. Die Momente sind schön und melancholisch – aber auch leicht erschließbar und irgendwie spannungslos.

Eine der stärksten Szenen ereignet sich zum Ende hin, als Christopher McDonald in einer Zweitrolle als charismatischer Prediger auftritt. In gleichförmigen Kleidern und Smokings tanzt seine Gemeinde um ein Feuer, während er sie gegen sexuelle Freizügigkeit und Homosexualität aufpeitscht. Auf einmal löst sich Simin aus ihrer Passivität. Sie weiß aus erster Hand, wie religiöser Fundamentalismus eine Gesellschaft zersetzt, und beginnt gegen seine Tiraden anzuschreien. In diesem Moment spüren wir, wie Simins Geschichte ihre Entscheidungen prägt, eine Handlungsenergie generiert. Und es wächst das Bedürfnis, die Fülle an Symbolen in Land of Dreams beiseite zu schieben und nach der Geschichte zu fragen, die hinter all den Verkörperungen steckt.
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