Lach doch mal – Kritik
Berlinale 2025 – Classics: Eine Waisenhausgeschichte in Moll erzählt die estnische Regisseurin Leida Laius in Lach doch mal (1985). Das Figurenensemble um die 16-jährige Mari ist darin engmaschig in gewaltförmige Verhältnisse verstrickt.

Aus dem Waisenhaus ausbrechen – dramaturgisch gesehen wäre das eher was für die zweite Filmhälfte. Szenerie, Figuren und Konflikte wären bereits etabliert und die Zeit reif, durch einen Ortswechsel nochmal einiges durcheinanderzubringen auf der genrekonformen Drehbuchebene. In Lach doch mal steht der Ausbruch gleich am Anfang; da weiß man noch gar nicht, woraus überhaupt ausgebrochen wird. Zu den Opening Credits und melancholisch wabernden Saxophonklängen entsteigt Mari (Monika Järv) einem LKW, rennt über die im diesigen Morgenlicht erstaunlich hübsch daliegende Einöde zu den weniger hübschen Plattenbauten im Hintergrund. Was wirkt wie eine Heimkehr, ist keine; Mari ist dort nicht zuhause, wohl aber ihr Vater, ein schwerer Alkoholiker, der für die eigene Tochter nach dem Tod der Mutter wenig übrig hat. Mari ist 16 und macht sich keine Illusionen, was ihren Vater betrifft. Er ist nicht der Typ Vater, zu dem man einfach zurückkehrt. Während sie bereits beim Reinkommen herumstehende Flaschen wegräumt, weist er sie schroff zurück und kippt nebenbei noch die Restbestände der letzten Nacht hinunter.
Überarbeitet und unterbesetzt
Warum also im Außen beginnen, jenseits vom Waisenhaus, aus dem Mari geflohen ist und das sie nach ihrer unfreiwilligen Rückkehr für den Rest des Films nicht wieder verlassen wird? Ein solcher Beginn gibt den Ton an, einen Ton, der unweigerlich Moll nach sich zieht. Kein Glas, keine Flasche in der väterlichen Alkoholikerhölle ist halbvoll. Wenn Mari so verzweifelt ist, dass sie darin eine ernsthafte Alternative zum Leben im Heim zu erkennen glaubt, dann müssen im Heim wahrlich untragbare Zustände herrschen. Bevor sie aber wieder dort landet, liefert der Film einen weiteren Beweis dafür, dass dieses Außen mehr Gefahren birgt als Hoffnung auf Verbesserung. Nachts am Bahnhof wird Mari von einer Gruppe gleichaltriger Jungs sexuell belästigt, ehe eine Gruppe Mädchen ihr zur Hilfe eilt und (noch) Schlimmeres verhindert.
Obwohl sich der Film größtenteils im Waisenhaus abspielt – gedreht wurde an authentischen Schauplätzen in Tilsi im Südosten Estlands –, ein Institutionenporträt ist Lach doch mal höchstens am Rande. Das Waisenhaus taugt nicht als idealtypische Disziplinaranstalt, die den delinquenten Kindern und Jugendlichen mit eisernem Regelwerk und drakonischen Strafen die Individualität austreibt. Die Autoritäten, sprich: die Erzieher*innen, aber auch ein staatlich verordnetes erzieherisches Telos, sind die meiste Zeit abwesend oder bereits ausgehebelt; das Bröckeln der Sowjetunion ist auch an den estnischen Rändern bereits spürbar (und im Rahmen der Perestroika filmisch artikulierbar). Bei einem Chaplin-Filmabend erliegt etwa ein Erzieher den Verhandlungskünsten der Kinder und gewährt ihnen Aufschub in Sachen Schlafenszeit. Wahrscheinlich will er vor allem selbst ins Bett, schließlich wirkt das Heimpersonal chronisch überarbeitet und unterbesetzt.
Mitgenüsslicher Diabolik

Diese Freiheitskorridore qua Missmanagement wissen die Kinder für sich zu nutzen, manche allerdings besser als andere. Einerseits sind die unterschiedlichen Altersklassen im Heim auf gegenseitige Unterstützung angewiesen, die Älteren spielen mit den Jüngeren, zuweilen entfaltet sich eine Art geschwisterliche Dynamik. Andererseits entspinnt sich in diesem Machtvakuum eine neue, wenn auch instabile Ersatzhierarchie, die ihren Gültigkeitsanspruch auf Mobbing, Niedertracht und Gewalt gründet. Mari ist lose mit einer Mädchen-Clique assoziiert, passt aber mit ihrer zurückhaltend-vermeidenden Art nicht so richtig hinein. Als sie sich als einzige weigert, dem Hungerstreik gegen den missratenen Kantinenfraß beizutreten (casus belli: verbrannte Milchsuppe), zahlen ihr die Mädchen das auf bittere Weise heim. Zur Revanche liest die Rivalin mit genüsslicher Diabolik aus Maris Tagebuch vor, in dem die introvertierte Urheberin ihre Gefühle teils in Gedichten, teils unverblümter offenlegt. Pikanterweise beziehen sich besagte Gefühle auf zwei Jungs, denn Lach doch mal versteht sich sehr wohl als Coming-of-Age-Film, auch wenn er die bekannten Stationen durch den dichten Melancholieschleier seiner Protagonistin (und reichlich 80er-Jahre-Ostblock-Flair: Jogginganzüge, Strickpullover, Walkman) mehr streift als schildert.
Die beiden Love Interests verkörpern, zunächst jedenfalls, gegensätzliche Männlichkeitsbilder: Tauri (Tauri Tallermaa), aus gutem Hause (dem er offenbar nicht gut genug war), ist ein durchaus passabler Pianist und auch sonst jemand für die leisen Töne, Mari vom Naturell her nicht unähnlich. Robi (Hendrik Toompere Jr.) hingegen ist der komplette Gegenentwurf: laut, aufbrausend, unberechenbar und bei den anderen beliebt für seine unterhaltsam dargebotene Unangepasstheit. Derartig hölzern bleibt die Figurenzeichnung nicht: Maris Sympathien verschieben sich von Tauri mehr und mehr zu Robi, was nicht ganz unproblematisch anmutet, schließlich kennt sie letzteren noch als sexuell übergriffigen Rädelsführer vom Bahnhof. Ohne Ambivalenzen geht es hier nicht; dafür ist das Figurenensemble aus Traumatisierten, Depressiven und Verstoßenen viel zu engmaschig in gewaltförmige Verhältnisse verstrickt. Zu Sanktionszwecken wird etwa ein Kleinkind kurzerhand in die Waschmaschine gesteckt. Und Mari muss erkennen, dass der ach so kunstsinnige Tauri durchaus in der Lage ist, seinen Kontrahenten Robi krankenhausreif zu prügeln, während dieser sich prächtig auf Igel-Mimesis und -Malerei versteht, im weiteren Sinne also auch über eine kreative Ader verfügt.
Der Ansatz eines Lächelns

Leida Laius, die große estnische Filmemacherin und ihr Ko-Regisseur und Kameramann Arvo Iho finden eine Form, die diese Ambivalenzen präzise nachvollzieht, ohne sie moralisch zu bewerten. Den Machtspielchen und Raufereien zwischen den Jugendlichen folgt die Handkamera mit einer zurückgenommenen Lebendigkeit, wirft sich schwungvoll ins Geschehen hinein, heftet sich an Fersen und mehr noch an die expressiven Gesichter der durchweg faszinierenden Jungdarsteller*innen. Würde die Referenz nicht so häufig bemüht werden, könnte man angesichts der Verschmelzung von Handkamera, Sozialkritik und hartem Realismus eine Verwandtschaftslinie zum humanistischen Kino der Brüder Dardenne ziehen. Ihos Bilder bewahren sich jedoch einen gewissen Spieltrieb (in Moskau lief der Film unter dem passenden Titel Spiele für Kinder im schulpflichtigen Alter), insofern spiegeln sie den begrenzten, aber doch vorhandenen Möglichkeitsraum der Kinder, die wissen, dass ihnen im Leben nichts geschenkt wird. Sie arrangieren sich in und mit der Zweckgemeinschaft, so gut es geht, es bleibt ihnen auch wenig anderes übrig. Gestalten lässt sich, wenn schon nicht die Zukunft, so doch die unmittelbare Umgebung: Auf dem Gelände des Heims steht etwas abgeschieden eine verfallene Villa, die den Kindern zum Experimentieren und Träumen dient. An diesem zwielichtigen, aber endlos wandelbaren Imaginationsort trifft man sich zu spontanen Kunstaktionen oder zum geheimen Rendezvous – die Grenzen vom einen zum anderen sind fließend.
Nach einem Selbstmordversuch, der sehr unmittelbar aus der erniedrigenden Tagebuchszene resultiert, findet auch Mari einen vorläufigen Frieden mit ihrem Schicksal. Als sie über die saftigen Wiesen blickt, wo ekstatisch geschaukelt und in den See gehüpft wird, scheint sie, zumindest für den Moment, in all diesem Chaos so etwas wie eine Ordnung erkennen zu können, vielleicht ist da sogar der Ansatz eines Lächelns. Eine neckisch anromantisierte Sequenz zwischen Robi und ihr setzt einen Kontrapunkt: Der Wunsch, dieser Ordnung zu entfliehen, indem man erneut ausbricht oder sich wenigstens verwandelt (in Vogel, Igel, Stiefel), ist deswegen noch lange nicht verschwunden.
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