Kokon – Kritik

VoD: Noch einmal im glitzernden Einhornkostüm zur Party. Kokon hält die Flüchtigkeit eines Sommers an der Grenze zum Erwachsenwerden fest und feiert das Aufwachsen seiner Heldin als poetische Entdeckungsreise.

Die 14-jährige Nora (Lena Urzendowsky) liegt mit ihrer Schwester Jule (Lena Klenke) und deren Freundin Aylin (Elina Vildanova) auf dem Balkon ihrer Kreuzberger Wohnung. Unter ihnen rumort Verkehr, geschäftiges Treiben rund um das Kottbusser Tor, multikultureller Hotspot der Hauptstadt. Die Mädels hängen rum, machen Quatsch, chatten mit Jungs, schauen sich Instagram-Videos an. Und sie schwitzen. Denn es ist 2018, der heißeste Sommer seit Beginn der Aufzeichnungen. Die Sonne brennt, der Asphalt flimmert. Alles um Nora herum ist laut: die Stadt, ihre Schwester, ihre Clique. Nur Nora ist meistens ziemlich still. Zwar überall dabei, aber mehr in einer Zuschauerrolle, als wirklich mitzumischen. Dabei ist sie keine Außenseiterin – eher hält sie sich mit Absicht distanziert. Und wir sehen die Welt durch ihre Augen.

Abstraktionen der Begierde

Wenn Nora und Aylin bei einem Spiel im Freibad um einen Ball wetteifern, fühlen wir mit Nora ihre Erregung, als Aylins Haut die ihre berührt. Die Kamera taucht dabei unter Wasser und filmt das Gerangel als Kampf von Gliedmaßen, losgelöst von den Körpern der beiden Mädchen. Was über Wasser wie ein unschuldiges Spiel aussieht, wird unter Wasser zum erotischen Ringkampf. Es ist nicht die einzige Szene, für die sich Regisseurin Leonie Krippendorff einer abstrahierenden Darstellung bedient. In der Schule bekommen die Schülerinnen und Schüler explizit die Aufgabe, durch ein abstraktes Werk auszudrücken, wie sie sich gerade fühlen. Nora bringt einen ihrer Schmetterlinge in einer Box aus weißem Stoff mit, wirft in der verdunkelten Aula mit einer Taschenlampe seinen Schatten an die Wand und liest dazu das Gedicht „Der Falter“ von Isabel Tuengerthal. „Wenn der Falter fliegt, denkt er dann, sobald das Licht ihn trifft, an Untergang? Oder fühlt er nur neuen Lebensmut? Durchs Licht die Liebe, und stürzt sich freudig in die Glut?“, heißt es darin – mehr Existenzialismus geht kaum.

Eines von Noras Hobbys ist es, exotische Raupen in Einmachgläsern zu pflegen, bis sie zu wunderschönen Schmetterlingen werden. Und wie der Filmtitel es schon andeutet, ist sie selbst gerade im Übergangsstadium. Wenn sie die dicken, knallgrünen Raupen bestaunt, ist sie ganz Kind, während ihre ältere Schwester die kriechenden Tiere ganz pubertätsgerecht schon eklig findet. Ihre Beobachterposition und damit auch das Kindsein verlässt Nora, als sie Romy (Jella Haase) kennenlernt. Die ist in Jules Parallelklasse und wesentlich älter als Nora. Mit ihr wird sie zum handelnden Subjekt. Emanzipiert sich von der Clique ihrer Schwester, probiert neue Dinge aus, tanzt wild auf dem Christopher Street Day und hat zum ersten Mal Sex.

Coming-of-Age mit rosaroter Brille

Kokon ist ein sanft erzählter Coming-of-Age-Film. Er feiert das Aufwachsen und das multikulturelle Berlin mit poetischen Bildern als Entdeckungsreise. Reale Probleme treten in den Hintergrund: der Gruppenzwang in Noras Clique, die Vernachlässigung der beiden Töchter durch die alkoholkranke Mutter, jung sein am nicht ganz ungefährlichen Kotti, der Besuch einer Brennpunktschule – das alles sind nur Randnotizen in Noras Welt. Gefühlschaos gibt es in Leonie Krippendorffs zweitem Spielfilm trotzdem. Vor allem aufgrund Noras Unsicherheit, ob sie nun lesbisch sei, weil sie sich in Romy verliebt habe. Doch auch hier überhöht die Regisseurin meist durch Methapern und Abstraktion. Als Nora und Romy zusammen mit deren Clique nachts in ein Freibad einbrechen und nackt baden, verliert sich Nora unter Wasser beim Anblick eines schönen Gegenstandes. Die Kamera taucht mit ihr unter, zeigt uns ganz nah etwas Funkelndes, fast Durchsichtiges, Schwebendes. Was uns unter Wasser verzaubert, entpuppt sich über Wasser als einfache, alte Plastiktüte. Und schon philosophiert Nora: „Was, wenn alles Schöne nur für kurze Zeit ist?“ Natürlich bezieht sich diese Frage auf ihre Beziehung zu Romy. Teenagerliebe kann sehr kurzweilig sein, und Herzschmerz ist auch in Kokon vorprogrammiert.

Erinnerungen an einen heißen Sommer

Aber tatsächlich wäre man in der Welt von Kokon gerne wieder 14 Jahre alt und würde Verlangen, Liebe und sich selbst noch einmal neu entdecken dürfen. Man würde sich gerne noch einmal die Haare blau färben, im glitzernden Einhornkostüm zur Party gehen, seine erste Liebe und sogar seine erste Periode noch einmal erleben. Denn trotz aller Probleme, die es beim Erwachsenwerden zu bewältigen gibt, drückt der Film durch träumerische, in Sonnenlicht getauchte Szenen auch die Leichtigkeit, Unbekümmertheit und Neugier aus, die diese Zeit auszeichnet. Was wir sehen, wirkt wie die romantisierte Erinnerung einer alten Frau an ihren ersten Sommer einer unschuldigen Liebe. Der Film ist so erzählt, wie man es seinen Enkeln erzählen würde. Nämlich mit emanzipatorischen Happy End und einem Lächeln zum Schluss.

Der Film steht bis zum 07.04.2024 in der ZDF-Mediathek.

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