Königin – Kritik

VoD: Selbstzerstörung, allein weil man sich's leisten kann. Eine Anwältin beginnt eine Affäre mit ihrem Schwiegersohn und praktiziert in der Familie, was sie vor Gericht bekämpft. Königin erzählt von einem freien Fall ohne Motiv.

Es gibt eine Szene, in der die Rechtsanwältin Anne (Trine Dyrholm) im Flur eines Gerichts gezeigt wird. Viele gerade Linien schneiden das Bild in der Länge; Wände, Türen, Säulen, eine Holzvertäfelung. Anne steht da, gerade und allein, sie ist selbst eine Linie, ein Teil der Ordnung, die in diesem Gebäude wiederhergestellt werden soll. Königin (Dronningen) ist ein Film über Ordnung und darüber, wie sie zerstört werden kann; dermaßen zerstört, dass man sich fragt, ob es sie jemals gegeben hat.

Eröffnet wird der Film mit einer Kamera, die schräg in den Wald guckt. Und dann langsam eine Wendung vollzieht wider die Anziehungskraft, bald stehen die Bäume kopfüber, strecken sich dem Boden entgegen. Ohne Halt kippt die Kamera weiter und landet sachte in der uns geläufigen Perspektive, fürs Erste steht die Ordnung. Als Anne später das erste Mal Sex hat mit ihrem Teenager-Schwiegersohn Gustav (Gustav Lindh) und danach benommen am Bettrand sitzt, hat die Kamera wieder einen Drehanfall, zieht ihr den Boden unter den Füßen weg, die Ordnung gerät ins Wanken. Ein andermal nach dem Sex mit Gustav dreht sich die Kamera um Annes genüsslich langgestreckten, nackten Körper wie um eine Kostbarkeit, die von allen Seiten betrachtet werden muss. Aus dem unheilvollen Kippen ist längst ein Rausch geworden.

Der Keim der Macht

Königin kennt im Wesentlichen nur einen Ort: die in nobler Kargheit gehaltene Luxusvilla, in der Anne mit ihrem Mann Peter (Magnus Krepper), ihren kleinen Töchtern (Liv und Silja Esmår Dannemann) und ihrem kürzlich eingezogenen Schwiegersohn Gustav lebt. May el-Touhky hat ihre Erzählung über den Missbrauch von Macht in der sogenannten Keimzelle der Gesellschaft angesiedelt, in der Familie. Königin hat etwas von einem Kammerspiel, die Verbindungen ins Außen sind gekappt. Nur Annes Arbeit erinnert daran, dass es nicht nur eine Außenwelt gibt, sondern auch so etwas wie einen kollektiven Konsens, der ins Private, ins Intime hineinregiert: Als Rechtsanwältin vertritt Anne Opfer von physischer oder sexualisierter Gewalt, das Machtgefälle zu den Tätern wirkt noch vor Gericht fort, wo es ihre Glaubwürdigkeit mindert. Anne wird Gustav nicht missbrauchen, es gibt keine Hinweise darauf, dass ihr Sex nicht einvernehmlich ist. Aber sie wird das Verhältnis im entscheidenden Augenblick abstreiten und sich damit des Mechanismus bedienen, auf dessen Bekämpfung ihre Karriere beruht: das Ungleichgewicht in der Glaubwürdigkeit, das komfortable Vertrauen darauf, dass ihrem Wort – dem einer erwachsenen Person in einem ehrwürdigen Beruf – mehr Glauben geschenkt wird als dem eines vorbestraften Minderjährigen.

Entfremdung

„Entweder musste der Brunnen sehr tief sein, oder sie fiel sehr langsam; denn sie hatte Zeit genug, sich beim Fallen umzusehen und sich zu wundern, was nun wohl geschehen würde“, liest Anne ihren Töchtern aus Alice im Wunderland vor. Königin ist die Geschichte eines freien Falles, für den es keine Erklärung, kein Motiv gibt, sodass man sich fragt, ob er nicht einzig aus der Laune heraus entstanden ist, zu gucken, wie sich ein freier Fall anfühlt und was wohl als nächstes geschehen wird. Eine Selbstzerstörung allein aus dem Grund, dass man sie sich eben leisten kann, dass es etwas zu zerstören gibt. „Fühlt es sich gut an?“, fragt Anne zu Beginn einen mutmaßlichen Vergewaltiger, der vor Gericht für unschuldig erklärt wurde. Die Fragen, die Anne als Rechtsanwältin stellt, werden sich im Verlauf des Films gegen sie richten, doch eine Antwort werden wir nicht erhalten, denn Königin bricht mit der Möglichkeit, sich mit Anne zu identifizieren, sie in ihrem freien Fall zu begleiten. Anne wird nicht deshalb als Kämpferin für die Gerechtigkeit etabliert, damit unsere Empathie auch im Unrecht nicht abreißt, sondern, im Gegenteil, um mehr Unbehagen und Fremdheit zu erzeugen. Eisig unnahbar spielt Trine Dyrholm die lügende Anne, mit einer Ruhe und Selbstsicherheit, die zeitweise die Frage aufwirft, ob das Verhältnis zwischen ihr und Gustav nicht bloß ein erotischer Tagtraum war.

Selbst ist der Täter

Die Villa, in der die Familie lebt, wird in der langwährenden Exposition als ein Ort des Friedens dargestellt, in dem die Zwillingstöchter behütet aufwachsen. Als Peter Anne vorwirft, trotz ihrer Absprache zum wiederholten Male einen ihrer jungen, hilfsbedürftigen Mandaten zu beherbergen, entgegnet die ihm, dass die Konfrontation mit der „Wirklichkeit“ den Töchtern nicht schade. Doch die Wirklichkeit des Machtmissbrauchs ist hier nicht etwas, was von außen kommt und abgewehrt werden muss; es war die ganze Zeit schon drinnen. Vielleicht findet Königin deshalb so viel Gefallen am Wald. Die Villa liegt direkt am Waldrand, der Übergang in den Garten ist fließend. So stehen raffiniertes Design, als Ausdruck ästhetischen Strebens, und Wildnis, als Ausdruck von Härte und Machtstreben, Seite an Seite, greifen ineinander über. Immer wieder wird der Wald zum Schauplatz, auch zum Schauplatz des Verhältnisses zwischen Anne und Gustav. Da ist es nur folgerichtig, dass diese Geschichte im Wald ihr Ende findet und dass mit diesem Ende die Ordnung wiederhergestellt wird: von zwei divergierenden Aussagen wird die eine aus der Welt geschafft.

Der Film steht bis 03.05.2023 in der ARD-Mediathek.

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