Kein Tier. So wild. – Kritik
Richard III. als postmigrantisches Gangster-Epos und sprachgewaltige Reflexion über Female Rage: In seiner Shakespeare-Adaption Kein Tier. So wild. erzählt Burhan Qurbani die Geschichte vom Aufstieg und Fall der ruchlosen Rashida York, die der Welt den Krieg erklärt, um frei zu sein.

Am Anfang war der Krieg – mit dieser apodiktischen Setzung eröffnet Burhan Qurbanis Kein Tier. So wild: In einer kargen ort- und namenlosen Gebirgslandschaft spielen vier Mädchen Theater. Unweit von ihnen ist ein Dorf zu sehen. Eine diffuse Anspannung liegt in der Luft. Ein paar Einstellungen später schießen Kampfjets im Tiefflug über das Gelände. Die Mädchen streben auseinander. Nur eines von ihnen bleibt zurück, den Blick starr auf das Dorf im Tal gerichtet, über dem sich eine gewaltige Feuersbrunst wölbt. Es ist Rashidas Erstkontakt mit dem Krieg, der „Beginn vor dem Beginn“, wie es im Vorspann der Szene heißt. In diesem Kippbild zwischen Trauma und Epiphanie nimmt die Tragödie von Rashida York ihren Anfang.
„Frei nach Shakespeares Richard III“, heißt es im Presseheft über Qurbanis Kein Tier. So wild. Fünf Jahre nach seinem letzten Film Berlin Alexanderplatz nach dem gleichnamigen Roman von Alfred Döblin präsentiert der Regisseur erneut eine Literatur-Verfilmung. Diesmal ist seine Wahl auf einen Stoff gefallen, der kanonischer kaum sein könnte: Shakespeares Tragödie vom Aufstieg und Fall Richards III., der sein Land ins Chaos stürzt, um König zu werden. Qurbani hat den Stoff aus dem England der Rosenkriege in das Berlin der Gegenwart verlegt.
Keine Milieustudie, sondern Modell

Aus Richard ist Rachida (Kenda Hmeidan) geworden, aus dem Konflikt zwischen Yorks und Lancasters, den verfeindeten Königshäusern bei Shakespeare, ein Krieg zwischen zwei kriminellen arabischen Großfamilien; nur die Namen sind gleichgeblieben. Rachida stammt aus dem Clan der Yorks. Als gewiefte Anwältin vertritt sie skrupellos die Interessen ihrer Familie vor Gericht – mit legalen und extralegalen Mitteln. Jüngst ist ihr ein Coup im Kampf gegen die Lancasters gelungen. Der Bandenkrieg, so scheint es, ist gewonnen. Imad (Mehdi Nebbou), der älteste Bruder Rashidas und Familienoberhaupt der Yorks, will das Momentum nutzen, um eine Friedensordnung zu etablieren – ein Projekt, das Rashida systematisch hintertreibt. Der Grund: Sie strebt selbst an die Spitze der Yorks, von der sie als Frau bislang ausgeschlossen gewesen war. Mit Unterstützung ihrer so loyalen wie kaltblütigen Vertrauten Mishal (gespielt von Succession-Star Hiam Abbass) arbeitet sie sich immer weiter von der Peripherie ins Machtzentrum des patriarchalen Clans vor – ohne Rücksicht auf Verluste. Richard III meets 4 Blocks? Mitnichten.
Dass dieses Crossover aus Shakespeare-Tragödie und Gangster-Drama gelingt, verdankt sich vor allem zwei Faktoren. Da wäre zum einen der exzellente Cast des Films, allen voran Hauptdarstellerin Kenda Hmeidan, die Rashida mit überwältigender Intensität spielt: von düster-charismatisch bis gollumhaft-paranoid. Da wäre zum anderen das brillante Skript von Enis Maci. Statt die Sprache von Richard III in ein pseudoauthentisches Neuköllner Gangster-Idiom zu übersetzen hat die Autorin eine ganz eigene, kongeniale Version von Shakespeare-Deutsch erfunden. Ein interessanter Nebeneffekt: Die Darsteller*innen von Kein Tier. So wild. – bis auf wenige Ausnahmen alle PoC – bedienen sich darin selbstverständlich einer Sprache, die in der Regel noch immer den „Kartoffeln“ in der deutschen Film- und Theaterwelt vorbehalten ist.

Mit Kein Tier. So wild. hat sich Qurbani von dem Sozialrealismus seiner bisherigen Filme losgesagt. Hatte sich dieser Bruch in den vereinzelten Manierismen des Vorgängers bereits angekündigt, so kommt er hier voll zur Geltung. Kein Tier. So wild. ist nicht Milieustudie, sondern Modell. Das „Berlin der Gegenwart“ oder „die Realität des Clan-Milieus“ existieren hier, wenn überhaupt, nur als Kulissen. Der Fokus liegt auf anderen, historisch langlebigeren Dingen.
Emanzipation als Kriegserklärung
Wie viel Disruption kann man einer Ordnung zumuten, bis sie kollabiert, bis sie in einem Krieg aller gegen alle versinkt? So könnte man die Problemstellung von Shakespeares Richard III zusammenfassen. So ähnlich lautet sie auch bei Qurbani – mit einem kleinen, aber gewichtigen Unterschied: Ist das disruptive Element bei Shakespeare das verletzte Ego eines Mannes, der sich um sein Recht zu herrschen betrogen sieht, so ist es bei Qurbani die Wut einer Frau, die es leid ist, dass dieses Recht nur den Männern zukommen soll. Aus dem Drama des gekränkten männlichen Narzissten wird in Kein Tier. So wild. eine Geschichte über Female Rage.

Was ist der Fluchtpunkt dieses Zorns? Ist Rashidas Revolte ein Putsch oder eine Revolution? So wenig der Film über die Vorgeschichte seiner Protagonistin preisgibt, so vage bleibt er auch bei der Frage ihrer Handlungsziele. Glaubt man Rashida, dann torpediert sie den verhassten „Krückenfrieden“ ihres Bruders nicht nur, weil sie ihn als Herrscher ablösen will, sondern auch, weil sie sich von den Ketten ihrer sozialen Existenz als Frau befreien will. „Freiheit“ ist das erste Wort, das wir in der furiosen Eröffnungssequenz des Films aus Rashidas Mund vernehmen. Freiheit ist auch das, was sie im zweiten Akt ihrem Love Interest, der schönen Ghanima Lancaster (Mona Zarreh Hoshyari Khah), verspricht, nachdem sie ein paar Szenen zuvor deren gewalttätigen Ehemann hat ermorden lassen (was Ghanima ihr schnell verzeiht). Die Freiheit, zu lieben, wen sie will, und die Freiheit, andere zu vernichten, sind für Rashida dabei eins. Sie unterscheidet nicht zwischen legitimen und illegitimen Zielen, nur zwischen Zielen, die ihrem Willen entsprechen, und solchen, die es nicht tun. Dieser Wille ist die einzige Maßgabe ihres Zorns. „Ich bin kein Tier”, insistiert sie in einer Szene. Ein Tier, sagt Rashida, „muss muss muss“, sie dagegen tue, was sie will.
Freiheit und Willkür – zwischen diesen beiden Begriffen entfaltet sich das Drama dieser Figur, die abgründige Ambivalenz ihrer Befreiung. Kein Tier. So wild. ist ein Film, der sich lieber dem Nihilismus-Vorwurf aussetzt, als diese Ambivalenz zugunsten eines klaren moralischen Urteils – für oder gegen seine Heldin – aufzulösen. Man kann das perfide finden oder grandios, konsequent oder inkonsequent. Entziehen kann man sich der Sogkraft dieses Films nicht.
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