Bonjour Paris – Kritik

In ihrem Debüt Bonjour Paris lässt Léonor Serraille eine fallengelassene Muse durch Paris streunen und ihr Leben aus den Annahmen anderer selbst komponieren.

Es gibt ein Spiel, das darin besteht, mit Ja-Nein-Fragen die Spielregeln zu erraten. Dabei wissen die Teilnehmenden nicht, dass der Spielleiter kein bestimmtes Ergebnis im Sinn hat, sondern das zu erratende Spiel einzig durch ihre Vorschläge erschafft; das Raten eilt dem, was es zu erraten gibt, voraus. Mit Paula (Lætitia Dosch) in Bonjour Paris (Jeune femme) verhält es sich ähnlich: eine Figur, die sich selbst erschafft, indem sie sich dankbar die Biografieschnipsel einverleibt, die man ihr entgegenwirft, seien es Smalltalk-Annahmen (etwa, dass sie Kunst studiert, um Lehrerin zu werden) oder schlicht Verwechslungen (dass sie die aus den Augen verlorene Grundschulfreundin ist). Auf die Spitze getrieben sieht dieses Prinzip des Films dann so aus: Paula in das Loch stürzen, das sich vor ihr im Boden auftut, als ihr langjähriger Lebensgefährte Joachim (Grégoire Monsaingeon) sie rausschmeißt, und gucken, was sie darin findet, um sich wieder Identität und Existenz aufzubauen.

Vom Monolog zum Dialog

Denn am Anfang ist die Sackgasse. Paula, halb Mensch, halb Tier, brüllt vor einer Tür, die ihr verschlossen bleibt. In ihrer Zerstörungswut zieht sie sich eine Platzwunde an der Stirn zu, die sie fortan durch den Film begleitet, ein dunkelrotes Komma, das an die Urverletzung erinnert, die der Trennung. „Ich war alles für ihn, und jetzt bin ich nichts mehr“, echauffiert sich Paula wenig später in einem frontalen Close-up, das die Aufmerksamkeit in Beschlag nimmt. Die Einstellung schafft den Eindruck eines Monologs, als würde Paula dem Zuschauer unmittelbar ihr Leid klagen – eher: aufzwingen –, tatsächlich aber ist da ein Arzt im Raum, den die Kamera vernachlässigt, ganz eingenommen von dieser komischen Figur, die sich in wilden Tiraden ergießt. Kurz macht man sich darüber Sorgen, ob Paula in Bonjour Paris jemals ein tatsächlicher Dialog gelingen wird, aber der Film ist so wandelbar wie sein Gegenstand und handelt eben davon: im Dialog mit anderen zu sich selbst finden.

Gerade Linien im wilden Hickhack

„Wartet jemand auf mich?“, erkundigt sich Paula im Krankenhaus. Es wartet niemand auf sie. Die Szene markiert den Nullpunkt in ihrer Existenz. Sie verlässt das Krankenhaus, ohne auf die Entlassung zu warten, und schnappt sich im Vorbeigehen noch den schicken roten Mantel ihrer Bettnachbarin, die erste Geste in einer langen Reihe von Aneignungen und Verwandlungen. Bonjour Paris hat mit seiner jungen Protagonistin viel vor. Dabei trügt das furiose Hin und Her, das fortan den Rhythmus des Films bestimmt. Denn Paula, die immer wieder sagt, dass man sich sein Plätzchen schaffen muss, hangelt sich zwar von Plätzchen zu Plätzchen; der Abfolge flüchtiger Bleiben steht aber eine ausgesprochen geradlinige Entwicklung gegenüber, hin zu einer, nun ja, glücklicheren Person.

Anfangs- und Schlussszene werden wunderbar kontrastiert: Am Anfang hämmert Paula an eine Tür und kommt nicht rein; am Ende packt sie ihre Sachen und geht. Dazwischen hat sie viele, wurden ihr viele Türen geöffnet. Trotz des Chaos, das die unbändige Figur auslöst und vermittelt, ist Bonjour Paris ein sehr konzentrierter, strukturierter Film, der mit Spiegelungen und Gegensätzen spielt. In der ersten Hälfte trauert Paula einem älteren, weißen, etablierten Fotografen nach; in der zweiten bahnt sich etwas an mit Ousmane (Souleymane Seye Ndiaye), einem schwarzen Wächter, der in einem Einkaufszentrum arbeitet. In der ersten Hälfe versucht sie auf allen möglichen, die Grenze der Belästigung überschreitenden Wege, mit Joachim in Kontakt zu treten; in der zweiten ist er derjenige, der verzweifelt um ihre Aufmerksamkeit buhlt. Die berühmte Ouvertüre von Carmen – „Wenn du mich nicht liebst, liebe ich dich“ –, die Paula und das Mädchen (Lilas-Rose Gilberti Poisot), auf das sie aufpasst, unter der Schwimmbaddusche trällern, ist hier prophetisch. Und findet schließlich selbst in dieser Beziehung traurige Geltung: Als das verschlossene Mädchen sich endlich mit Paula anfreundet, wird die von der Mutter (Erika Sainte) entlassen.

Objekt– Subjekt

Am Anfang erzählt Paula, dass ihrem ehemaligen Lebensgefährten der Durchbruch mit einer Fotografie von ihr gelang. Was er aufnehmen mochte, so soll er gesagt haben, war nicht sie, sondern „die Frau, die in ihr heranwächst“. „Was soll das heißen, die Frau in mir?“, spottet Paula verbittert. Interessanterweise scheint der Film aber genau diesen Satz aufzugreifen und Paula in fotografischen Kompositionen einzufangen, die nun die Person zeigen, zu der sie, von Joachim gelöst, herangewachsen ist. Die Spannung zwischen Objekt und Subjekt durchzieht den Film. Als Paula für eine Nacht ins Hotel einzieht, werden die Aufnahmen mit dem Ton eines Interviews von Joachim überlagert, in dem er seine Faszination für abgelegene Orte und einsame Menschen erklärt. Eine ambivalente Sequenz: Die Überlagerung reproduziert Joachims Blick auf Paula, verleibt sie sich quasi mit seinem Blick als Fotografen ein; und gleichzeitig dokumentiert sie die Abnabelung, produziert doch die Trennung eben die Einsamkeit, die ihn anzieht.

Bonjour Paris ist nicht loszulösen von dem Raum, durch den er Paula treibt, auf der Handlungs-, aber auch auf der Dialogebene. Paris ist immer wieder Gegenstand von Gesprächen. Eine Stadt, die Menschen nicht mag, sagt Paula; eine Stadt, in der man nicht auffällt, sagt Ousmane: Léonor Serraille erschafft ein Paris, in dem verschiedene Lebenswirklichkeiten nebeneinander bestehen, oftmals auf engstem Raum, aber dennoch segregiert, und nur für Paula mühelos durchlässig; eine Durchlässigkeit, die ihre bildliche Übersetzung auch in den langen Einstellungen findet, die der Film der umherwandelnden Hauptfigur widmet. Paula schwebt über soziale Unterschiede, isst mit demselben Naturell in der Wohnung ihrer bourgeoisen Auftraggeberin wie im Hinterzimmer des Ladens, in dem sie irgendwann als Verkäuferin arbeitet. Bonjour Paris schlägt sich aber eindeutig auf die Seite der Wachen und Verkäufer, nimmt das künstlerische Milieu um den Fotografen Joachim auf die Schippe und stellt seiner Heldin Glück fernab vom Komfort ihres alten Lebens in Aussicht.

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