Irreversibel – The Straight Cut – Kritik
Wie man die Zeit auch dreht und wendet, in Richtung Zerstörung geht sie in Irreversibel leider immer. Dabei zeigt die neue, chronologische Schnittfassung, dass Gaspar Noés Film nie etwas verborgen hat, was es zu offenbaren gäbe.

Der Film, der Cannes 2002 ein Trauma verpasste, ist in einer neuen Schnittfassung zurück. Es liegt ja in der Natur des Traumas, dass es wiederkehrt. Aber es liegt auch in der Natur dieses Films, dass er sich gegen jede Verarbeitungsbemühung sperrt. Die Natur von Irreversibel (Irréversible) ist nämlich die Zeit, keine Zeit aber, die die Wunden heilt, sondern eine, die sie aufreißt. Zeit, die alles zerstört. Nun hat der Film eine Zeitreise gemacht, eben weil er selbst eine Zeitreise ist, vielleicht auch ein Wurmloch: Wie unwahrscheinlich das auch klingt, hat er einige Gemeinsamkeiten mit dem Genre der Science-Fiction. Irreversibel, der Film mit der umgekehrten Erzählrichtung, hat sich nach seiner Zeitreise, nur konsequent, ein weiteres Mal umgekehrt.
Kein Anfang und kein Ende

„LE TEMPS DETRUIT TOUT“ – das ist der aggressiv simple Kernsatz, der aufdringlich im Bild erscheint, in der Originalfassung am Ende, in der neuen Fassung am Anfang des Films. Aber Anfang und Ende waren für Irreversibel möglicherweise schon immer überflüssige Begriffe. So wie ein Wurmloch keinen Anfang und kein Ende hat, es hat einfach zwei Eingänge, oder zwei Ausgänge, wie man’s nimmt. Und da fällt einem vielleicht auf, warum der Film überhaupt irreversibel sein soll: Egal wie man die Sache dreht und von wo man sie sich anschaut, es ändert nichts an der abscheulichen Vergewaltigung, nichts am Feuerlöschermord, nichts an all den furchtbaren Brutalitäten, von denen es in Irreversibel wimmelt. Der Film kann die Zeit vor- oder zurückspulen, eine Richtung besitzt sie leider immer. Und die Richtung ist für Gaspar Noé die Zerstörung, das Schlechterwerden der Welt, die Fahrt in die Hölle oder einfach die Entropie.

Natürlich sollte man aber die Bedeutung der Erzählrichtung nicht unterschätzen. Das rückwärtsgewandte Abspielen einer linearen Chronologie in 15 Episoden brachte es mit sich, dass sich beim Zuschauen Folgen nicht so einfach mit ihren Ursachen verbinden ließen. Durch das Auge einer hysterischen Kamera und zusammen mit den scheinbar wahllos gewalttätigen Männern Marcus (Vincent Cassel) und Pierre (Albert Dupontel) wurde man in die ungemütlichste Unterwelt einer Großstadt im flimmernden Rotlicht geschleudert und verstand nicht, warum all das geschah. Und das sichere Schlafzimmer im Dämmerlicht, die grüne Wiese bei Sonnenschein, die heile Welt, in der man das glückliche Paar Alex (Monica Bellucci) und Marcus am Ende vorfand, war in keiner Weise aus dem Vorangegangenen abzuleiten. Die Umkehrung der Tragödie ergibt eine Happy-End-Geschichte, aber eine ohne Katharsis. Warum die grässliche Gewalt stattfand, bleibt im Grunde weiterhin offen, wenngleich die Motive halbwegs erfasst worden sind. Gewalt ist eben mehr oder weniger sinnlos und gleichzeitig unvermeidbar, so wie alles andere auch, scheint uns Noé durch den Dialog der zwei älteren Männer, am Ende der neuen Schnittfassung und am Anfang des Originals, zu sagen.
Simulierung inhaltlicher Substanz?

Es gibt auf jeden Fall keine Wiedergutmachung, und die umgekehrte Richtung schließt sie umso mehr aus, weil sie keiner Hoffnung Raum lässt. Alles, was die Zuschauer vor Alex’ Vergewaltigung erleben, sind die grässlichen Folgen des Ereignisses, das Ereignis selbst kündigt sich unerbittlich in der Rückwärtserzählung an. Danach ist die Brutalität zwar von der Bildfläche verschwunden, keine Figur im Film ahnt das Geringste von dem, was ihr bevorsteht. Aber wir Zuschauer wissen um die Zukunft ihrer Vergangenheit. Dass sie unvermeidbar ist, weil sie sich vor unseren Augen bereits abgespielt hat. Die Irreversibilität wird durch ein, wenn nicht banales, so doch simples Mittel – die Umkehrung – erzeugt.

Schon immer wurde dieser „Kunstgriff“ misstrauisch beäugt. In der damaligen FAZ-Kritik ist der Autor felsenfest überzeugt, dass die richtige Erzählreihenfolge die „brüllende Banalität“ und das „Nichts an Substanz“ des Films offenbaren würde. Diente die Umkehrung also nur der Simulierung einer inhaltlichen Substanz? Die neue Schnittfassung präsentiert die Antwort auf diese Frage – und wiederholt dabei im Grunde, was der Film immer schon gezeigt, gesagt und wiederholt hat. Irreversibel hat nie etwas verborgen, das es zu offenbaren gäbe. Das Grauenhafte ist ja gerade, dass er immer alles gezeigt hat. Die Bedeutung des Films – „die Zeit zerstört alles“ – liegt nicht im Verborgenen, sie wird dem Publikum buchstäblich ins Gesicht geworfen und ist damit jeglicher Hermeneutik entzogen. Es geht ihm nicht um Substanz, Bedeutung und Sinn: es geht um die Wirkungen, um Intensitäten, die erzeugt werden (und wer, der ihn gesehen hat, würde ihm die geradezu unerhörte Intensität absprechen?). Das ist der radikale Materialismus des Films. Deswegen spielt sich das Wesentliche unten ab, tief in der Materie, in den Abgründen, wo es nur Würmer und Löcher gibt, weit weg von Luft und Freiheit, weit weg von Ideen und Idealen.

Dort ist das „Rectum“, der höllenhafte Schwulenclub unter der Erdoberfläche, mit dunklen, labyrinthischen Gängen voll mit ekstatisch stöhnenden und ächzenden Männern. Dort treibt sich auch ein Zuhälter namens „Le Ténia“ (dt.: Bandwurm) herum, der in jener anderen, fast zehnminütigen Szene Alex in einer rot beleuchteten Straßenunterführung grausam vergewaltigt und misshandelt. Zur Party, die Alex frühzeitig allein verlassen wird, fahren die drei Freunde mit der Metro. Überall im Film sind Tunnel, enge Räume, Ein- und Ausgänge.
Keine Versöhnung, aber ein Angebot

Mit der neuen Schnittfassung hat man nun den Tunnel oder das Wurmloch vom anderen Ende her betreten, aber sonst hat sich nicht viel geändert. Vielleicht erhalten die kleinen Prophezeiungen eine größere Gewichtung, wie zum Beispiel der Traum von Alex, in dem sie einen roten Tunnel sieht, was den Determinismus des Films unterstreicht. Andererseits wird die Hoffnung auf Vermeidung des Bevorstehenden in der gewohnten Ordnung von Ursachen und Folgen etwas mehr gefüttert (interessanterweise selbst wenn man das Original schon kennt): Bleibt Alex vielleicht doch auf der Party? Ignoriert sie vielleicht den Ratschlag der Fremden auf der Straße und geht nicht in die Unterführung? Diese bangen Hoffnungen charakterisieren eine Dramaturgie, die eher der Gewohnheit des Publikums entspricht, auf ein drohendes, aber vielleicht vermeidbares Unheil zuzusteuern. Der Film wirkt damit etwas versöhnlicher, lässt die Zuschauer weniger auf sich gestellt. Eine Versöhnung Noés mit dem Publikum ist das zwar nicht, vielleicht aber ein Angebot, das Trauma zu verarbeiten. Allerdings verlieren Wiederholungen die Radikalität des Neuen. Irreversibel musste wiederholt werden aufgrund dessen, was er ist, in eben dieser Schnittfassung, alles andere wäre inkonsequent und entspräche nicht seiner Form: dem Wurmloch.
Neue Kritiken

Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes

Kung Fu in Rome

Dangerous Animals

Versailles
Trailer zu „Irreversibel – The Straight Cut“

Trailer ansehen (1)
Bilder




zur Galerie (17 Bilder)
Neue Trailer
Kommentare
Es gibt bisher noch keine Kommentare.