Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão – Kritik
VoD:Melodram nahe dem Regenwald. Als tropisch-schweißige Schwere legt sich das Patriarchat über die Bilder, mit denen Karim Aïnouz von der Sehnsucht der Schwestern Gusmão erzählt.

Das „tropische Melodram“, als das der Film beworben wird, gibt es gleich zu Beginn auf wenige Sequenzen verdichtet, im Regenwald natürlich. Ein schmächtiger Wasserstrahl rinnt eine Felswand hinab und wird alsbald vom Bild eines kräftigeren Stroms abgelöst, der sich mit Gewalt entlädt und wuchtig am Boden aufschlägt. Das ist die Sprache, die Männer in diesem Film durchweg sprechen, insbesondere im Sexuellen: eine unbändige Kraft, die sich entladen muss und wie eine Naturgewalt über Frauen hereinbricht. Dann erscheinen die titelgebenden Schwestern Gusmão, Eurídice (Carol Duarte) und Guida (Julia Stockler), verlieren sich im Wald aus den Augen und rufen mit immer größerer Verzweiflung nacheinander. Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão macht sich zum Resonanzkörpers dieses Rufs, vor dem Hintergrund eines Naturrechts der Männer auf die Verfügung über Frauen.
Die Sehnsucht der Anderen

Der Film spielt in Rio de Janeiro in den 1950er-Jahren. Eurídice und Guida, um die 20 Jahre alt, leben noch bei ihren Eltern. Eurídice, die Klavierspielerin, träumt davon, am Konservatorium in Wien zu studieren; Guida hat eine Liaison mit einem griechischen Seemann und ist ganz im Taumel der ersten Liebe. Aïnouz inszeniert sie als ungleiche Schwestern, die bei der anderen jeweils die Sehnsucht nach und die Bewunderung für das, was man selbst nicht ist, wecken: Guida blickt zu Eurídice auf, für deren Ehrgeiz und Disziplin, Eurídice ist gleichermaßen erschrocken und neidisch auf Guidas Unbeschwertheit und Kühnheit.

Die patriarchale Durchtränkung der Gesellschaft dröselt Aïnouz an einzelnen Miniaturen auf: Manoel, der Vater, (António Fonseca) sitzt im Sessel, während die Frauen ringsum geschäftig hin und her eilen; Guida muss sich nachts waghalsig davonstehlen, um etwas Zerstreuung in einem Tanzlokal zu finden. Dann aber kommt der tiefe Einschnitt, knickt die Biografie ab, wird der Selbstbestimmung in aller Deutlichkeit ein Riegel vorgeschoben: Guida, nach einer kurzwährenden Eskapade vom griechischen Seemann schwanger zurückgelassen, wird des Hauses verwiesen und im Glauben gelassen, ihre Schwester studiere am Konservatorium in Wien; Eurídice wurde derweil an Antenor (Gregorio Duvivier) verheiratet, den Sohn eines Geschäftspartners.
Melodramatische Frustration auf der Spitze

Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão ist die Geschichte einer zweifachen Sehnsucht, der Sehnsucht nach der verloren geglaubten Schwester und der Sehnsucht nach einem selbstbestimmten Leben. Beide Sehnsüchte kreuzen sich im Irrglauben, die andere führe das erträumte Leben: Guida wähnt Eurídice eine weltberühmte Klavierspielerin, Eurídice wähnt Guida in einer glücklichen Ehe in Griechenland. Tatsächlich fristen beide ein jeweils schwieriges Dasein in der gleichen Stadt. Doch die beiden Handlungsstränge werden nicht mehr zueinander finden, werden fortan parallel erzählt, ohne sich je zu treffen. Das Melodram liebt verpasste Gelegenheiten und geplatzte Hoffnungen, es liebt das Scheitern im letzten Augenblick, das Gefühl, dass es so wenig bedurft hätte, um doch zu gelingen, und der Film bedient sich dieser Logik reichlich, treibt konzentriert die Frustration auf die Spitze, dass Eurídice und Guida schlicht nicht zueinander finden werden. Unvergesslich ist die virtuos montierte Szene, in der beide Schwestern im gleichen Restaurant sind, getrennt von einem Aquarium; die beiden Hälften werden als je eigene Räume bespielt, auch der Kamera wird der umfassende Blick, die zumindest bildliche Wiedervereinigung, verwehrt.
Das Ebenbild aus dem Untergrund

Verbunden werden beide Handlungsstränge durch die Briefe, die Guida an Eurídice schreibt und an ihre Eltern schickt in der Hoffnung, dass sie sie nach Wien senden. Guidas exaltierte Vorstellung von Eurídices Leben in Wien legt sich im Voice-over auf die tatsächlichen Bilder aus dem Leben ihrer Schwester: die zum Alltag gewordene Vergewaltigung durch den Ehemann, die Haushaltspflichten, die Schwierigkeit, in Ruhe dem Klavierspielen nachzugehen. Immer wieder ist die Kamera vor der Tür, schränkt Eurídices Wirkungsfeld durch den Türrahmen ein und findet darin ein starkes Bild für die Enge ihres unfreiwilligen Hausfrauendaseins.

Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão spannt sich über fünfzig Jahre. Kinder werden geboren, Rückschläge weggesteckt, Feste gefeiert. Bei Eurídice gibt es das in der bürgerlichen Fassung, oft sind die Eltern zu Gast; Guidas Leben gibt das Spiegelbild dazu aus dem Untergrund, dort, wo an die Stelle von Familienbanden Freundschaft tritt. Doch eines verbindet Eurídices bürgerliche Existenz und Guidas Leben am Rande der Gesellschaft: das Gefühl fortwährender und opulenter Schwüle. Die unterschiedlichen sozialen Räume, in denen sich die Schwestern bewegen, werden auf der visuellen Ebene nicht kontrastiert, sondern durchzogen von derselben tropischen Schwere, von einer Mischung aus Schweiß und Sinnlichkeit, von einer Nähe zum Fieberdelirium, in dem satte Farben und kühle Töne sich rasch ablösen. Die unterschiedlichen Konditionen der beiden Frauen sind, so Aïnouz, letztlich nur Variationen desselben gesellschaftlichen Missstands.
Der Film steht bis zum 06.02.2022 in der Arte-Mediathek.
Neue Kritiken

Mein 20. Jahrhundert

Caught Stealing

Wenn der Herbst naht

In die Sonne schauen
Trailer zu „Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão“

Trailer ansehen (1)
Bilder




zur Galerie (17 Bilder)
Neue Trailer
Kommentare
Es gibt bisher noch keine Kommentare.