Missverstanden – Kritik
Asia Argento hat nach zehn Jahren wieder einen Film gedreht und ist ihrem punkigen Ansatz treu geblieben. Missverstanden ist ein Film wie eine wilde Party, der wir zusehen, ohne eingeladen zu sein.

Auf eine merkwürdige Art ist man nachher doch froh, dabei gewesen zu sein. Denn von dieser Bilderflut bleibt etwas, ohne Frage. Weniger einzelne Bilder und Momente als ein nur schwerlich in herkömmliche Formen der Erinnerung integrierbarer Wust aus Farben und Bewegungen, aus Kinder- und Erwachsenengesichtern, aus den merkwürdigsten Kameraperspektiven. Die Erinnerung an Asia Argentos Missverstanden gleicht der Erinnerung an einen Traum. Und das ist wohl das Beste, was man über diesen Film sagen kann. Er ist ein recht einzigartiger und ziemlich kompromissloser Trip, dem jeglicher Rhythmus abgeht. Am stärksten im Gedächtnis bleibt das Gesicht von Giulia Salerno. Denn in Missverstanden (Incompresa) geht es um die von ihr gespielte neunjährige Aria, die Mitte der 1980er Jahre eine recht rastlose Kindheit erlebt. Ihre selbstgerechten Eltern trennen sich gleich zu Beginn des Films, und für Aria beginnt ein ewiges Pendeln, von Mutter (Charlotte Gainsbourg) und Vater (Gabriel Garko) abwechselnd abgeschoben und wieder aufgenommen, beschimpft und wieder getröstet, ignoriert und wieder umarmt. Man merkt schon: Das Label Punk-Melodrama, das Argento ihrem Film gegeben hat, trifft die Sache tatsächlich ziemlich gut.
Fragmentierte Kindheit

Autobiografisch sei ihr Film nicht, hat Argento gesagt. Die Parallelen zwischen Regisseurin und Heldin (gleiches Geburtsjahr, nur ein Buchstabe Unterschied im Vornamen) sind also wohl nur ein kalkulierter Gag und natürlich auch nicht wichtig. Argento hat wohl eher filmische Referenzen im Kopf, andere berühmte Kindheiten im Kino, allen voran den gleichnamigen Film von Luigi Comencini (Incompreso, 1967). Die anarchische Form ihres Porträts einer Familienbeziehung aus Kindersicht gemahnt dagegen eher an Xavier Dolans I Killed My Mother (2009). Salerno ist dabei tatsächlich dasjenige Element, das den Film beim Erfahren und beim Erinnern grundiert. Denn das Mädchen spielt, nicht nur „für sein Alter“, unglaublich gut. Und Argento zeigt erneut – gerade in den Szenen, in denen auch Arias drei Schwestern auftauchen –, dass sie ein gutes Gespür für die Inszenierung von Kindern besitzt.
Meint man es gut mit Argento, dann findet man in ihrem Punkdrama mit den knallig bunten Neon-Farben und den überzeichneten Erwachsenen-Figuren eine bestimmte Welterfahrung ausgedrückt, übersetzen sich die vielen Ortswechsel in die überbordende Schnittfrequenz, beschwören die überzeichneten Figuren den Kinderblick auf eine Erwachsenenwelt, meint die strukturlose Filmform eine fragmentierte Erinnerung an die Kindheit, in der immer was los war und alles viel zu schnell ging. Fragmente ohne Sinn, in Kohärenz gebracht erst durch die rückbleibende Anstrengung, diese Elemente in das zu integrieren, das man gemeinhin Kindheit nennt – eine Kohärenz, die freilich unerreichbar bleiben muss.
Enge im Bild, Narzissmus in der Montage

Innenaufnahmen dominieren den Film, und selbst draußen an der Frischluft lässt Argento uns kaum mal tief Luft holen. Immer und überall Enge, wenn nicht in der Wohnung, dann im Bild. Wenn die Kamera auf Distanz geht, dann füllen gleich eine ganze Reihe von Figuren den Kader, wenn Aria mal allein ist, rückt die Kamera ihr auf die Pelle. Doch die Inszenierung mutet zu beliebig an, als dass es ihr um eine konsequente Erfahrbarmachung einer eingezwängten Kindheit gehen könnte. Man mag Parallelen zur Star-Persona der Regisseurin ziehen oder es bleiben lassen, aber Missverstanden ist ein ungemein narzisstischer Film. Ständig stellt er sich selbst aus, nutzt die Kamera ungewöhnliche Perspektiven, ein bisschen zu tief, ein bisschen zu hoch, blickt bald von oben aus der Ecke, bald von unten auf die Kinder. Diese Blickwechsel scheinen dabei durch wenig mehr motiviert zu sein als durch ihre Ausstellung als Blickwechsel. Sieh mal, welch eigenwillige Perspektive! Man wird das Gefühl nicht los, Argento wolle – sich selbst oder anderen – etwas beweisen.
Beim Scheißen zusehen

Zwischendurch fordert uns Argento dann doch immer wieder auf, mit der kleinen Aria zu fühlen, versucht, ein bisschen ernsthafte Tragik in ihren wilden Trip zu mischen. So richtig funktioniert das nicht. Es ist, als würde uns jemand eine Überdosis Acid verabreichen und dann ständig bitten, konzentriert seiner Lebensgeschichte zu lauschen. Die Liebesbedürftigkeit der kleinen Aria verschwindet so hinter einem selbst liebesbedürftigen Film. So herrlich knallig die Farben sind, so detailverliebt die Ausstattung, so wunderbar hyperaktiv die Darsteller – Argentos Inszenierung ist leider eher obsessiv originell denn auf originelle Weise obsessiv.

Weil der Film sich ständig selbst zusieht, können wir ihm kaum zusehen. Argentos Punk-Melodram mutet mitunter arg beliebig an, was an sich noch kein Problem wäre. Gerade radikale Beliebigkeit kann ja befreiend sein, wenn sie nämlich selbst die Willkür der gebrochenen Konventionen freilegt. Aber der filmische Punk müsste etwas befreien, das nicht es selbst ist. Missverstanden jedoch verweist ständig auf sich selbst und nur selten über sich hinaus. Argento scheißt auf alles, aber feiert damit weniger das Kino als ihr eigenes Scheißen. Dieser radikale Narzissmus ist konsequent, aber ermüdend. So ist der Genuss dieses Films einer, der sich erst in dem Versuch einstellt, aus dem Bilderüberfluss die strukturierte Erinnerung an einen Film zu basteln. Eben so, wie wir versuchen, aus unseren schwammigen Kindheits-Fragmenten eine Biografie zu basteln. Ein sehr später Clou.
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