Idioten der Familie – Kritik
Fünf Geschwister und ein Haus. Unprätentiös und smooth spielen alle ihr Familiending. Die jüngste wollen sie ins Heim schicken. Michael Kliers Die Idioten der Familie erzählt ein schwieriges Sujet in einer unbekümmerten Sprache.

Die Idioten der Familie, das sind drei Brüder und zwei Schwestern, die an einem Sommerwochenende im Haus ihrer Kindheit zusammengefunden haben. Dieses Haus im Grünen ist schön und einladend, wie Familienhäuser in Filmen es meistens sind: große Fenster, Schiebetüren, Kunst an den Wänden und Blumen in Vasen, in der raffinierten Unordnung sind Erinnerungen stets abrufbereit. Hier wohnen in einer Zwangs- und Notgemeinschaft die beiden Schwestern. Ginnie (Lilith Stangenberg), Mitte zwanzig, die jüngste der fünf, ist geistig behindert. Sie redet kaum, meidet Augenkontakt, kocht Turnschuhe in der Mikrowelle, verteilt Besteck auf dem Boden. Mit Ginnie ist immer irgendetwas – das ist auch ihre Art sich mitzuteilen. Die Schwester Heli (Jördis Triebel), die Älteste von allen, kümmert sich seit vielen Jahren alleine um Ginnie. Zeitungsausschnitte an der Garagenwand lassen eine vielversprechende Karriere als Künstlerin vermuten, der aus dem Grund nicht nachgegangen werden konnte. Dieses „Leben auf Sparflamme“ will Heli nicht mehr führen. Eine Hochzeit ist geplant, ihr Ticket in die Freiheit, nicht so sehr ihr wahrer Wunsch als vielmehr ein Vorwand, Ginnie ins Heim zu schicken. Deswegen sind jetzt alle da, das Heim sei gut, aber wie gut es auch sein mag, es wird das Zuhause nicht ersetzen. Schlechtes Gewissen überkommt die Geschwister mal gleichzeitig, mal im Wechsel.
Kaputte Individualisten

Der Bruder Frederick (Kai Scheve), ein Musiker mit Festanstellung, Porschefahrer, verheiratet und chronisch untreu, erteilt den anderen gern ungefragt Ratschläge. Tommy (Hanno Koffler), sein erfolgloses Familienpendant, spielt Saxofon, aber mit Jazz, so Frederick, lässt sich in Deutschland nichts verdienen. Der jüngste Bruder heißt Bruno (Florian Stetter), ein studierter Ethnologe mit dem dazugehörigen Hang zum Eskapismus – lieber hilft er Menschen in Afrika, als hier, am Rande von Berlin, im Haus der Familie. Also will auch der engagierte Bruno die Last nicht auf sich nehmen, aber er wirft die These in den Raum: Wir sind eine Gesellschaft der „kaputten Individualisten“, alles Anstrengende wird von uns als Störung empfunden. Wie wir mit den Schwächeren umgingen, sage viel über uns aus. Die Botschaft des Films ist diese These nicht ganz, vielmehr ein Argument, eine dahingestellte Frage, bei der die Schere zwischen artikulierter Haltung und Realität potenziell sehr weit auseinandergeht: Wie kann Behinderung einen selbstverständlichen Platz in der Gesellschaft finden, nachdem sie jahrhundertelang einer systematischen Abgrenzung unterlag? Wo kann und muss man Hilfe leisten, und wo kann man es nicht mehr? Die Überforderung der Figuren, ihre Mischung aus Zärtlichkeit und Verzweiflung, ihr Staunen über Ginnies sehr wohl gelebte Sexualität wirken sehr realistisch.
Ein Darsteller- und Darstellerinnenfilm

Fünf Geschwister in einem Haus: Idioten der Familie bleibt (von einem Ausflug in die nah gelegene Gartenkolonie und einer vergnügten Cabrio-Fahrt abgesehen) durchweg ein Kammerspiel, das die tastende Kamera von Patrick Orth (Schlafkrankheit, Toni Erdmann) sehr schön einfängt. Die Übergänge sind fließend und tiefenentspannt. Zwischendurch und währenddessen gibt es für vieles Raum und Zeit: fürs Allein- und Beisammensein, für Mittagsschlaf und einen Seitensprung. Für Zankereien findet sich natürlich auch immer wieder ein Ort. Was es heißt oder heißen könnte, eine Familie zu sein – das ist in die Bilder des Films eingeflossen, in ihrer Textur und dem Rhythmus verankert, in ihrer mal leisen, mal offen gelegten Bewegtheit. Idioten der Familie ist ein Darsteller- und Darstellerinnenfilm und als solcher sehr überzeugend: Von der Bemühung zu spielen ist kaum etwas zu spüren, dafür sind die Präsenz und das Plastische vollkommen da. Lilith Stangenberg hat den schwierigsten Part, ist dabei natürlich als Lilith Stangenberg stets wiederzuerkennen, da sie im Kino bisher meist Figuren verkörperte, denen ein Schritt aus der Gesellschaft heraus ohnehin allzu leichtgefallen ist. Unprätentiös und smooth spielen alle ihr Familiending: Sie hängen herum, veranstalten einen Musik- und Tanzabend, rauchen, suchen nach versteckten Schnapsflaschen und finden eine ganz oben auf dem Küchenschrank (widerliches Zeug, „schmeckt nach Papa“), beneiden einander um ihr Leben, sprechen wunde Punkte an, ohrfeigen und küssen sich. Von dieser ambivalenten Dynamik, von Stimmungen und Irritationen und der hinreißenden Intimität handelt Idioten der Familie. Für die Gattung „Familienfilm“ ist er sehr sinnlich geworden.
Die verlorenen Paradiese der Kindheit

Den Regisseur Michael Klier hatte heute vermutlich kaum jemand auf dem Schirm. Er ist aber zum Beispiel einer, der zum Thema Schauspiel mal eine deutliche Meinung äußerte. Sein Essayfilm Schauspielerei (Gesten und Gesichter) von 1982 ist eine persönliche Kritik an den „schweren Gesichtern“, dem „starren entsetzten Blick“ und dem „harten Mund“ der Darstellerinnen und Darsteller im Neuen Deutschen Film. Ein auf präzise Beobachtung gestützter Kommentar gegen in ihrer Deutlichkeit schier unerträgliche Gefühle, die „wie ein falscher Bart im Gesicht kleben“, gegen die Unterwerfung des Schauspiels unter die Botschaft von Drehbuch und Regie. In Casting (1986) sucht Klier in den schnörkellosen Probeaufnahmen von Juliette Binoche sowie unbekannt gebliebenen Statisten nach ihrer spezifischen Körperlichkeit, nach unverstellten Zügen oder nach dem, was er in Schauspielerei „die verlorenen Paradiese der Kindheit“ nennt.

Einordnen möchte man Michael Klier irgendwo im sehr weiten Feld zwischen Rudolf Thome und Harun Farocki – von beiden hat er etwas. Mit dem Filmemachen begann Klier damals aus cinephiler Motivation heraus: Die in den 1960ern entstandenen Kurzfilme sind auf Nouvelle Vague’sche Art lebhaft und getrieben, konzise und von großer Eleganz – kurze, am Leben und Menschen interessierte Porträts. Als reflektiertes Voice-over war Klier in diesen Filmen oft präsent. Es folgte der aus Aufnahmen der Überwachungskameras zusammenkomponierte Der Riese (1983), eine perfide Stadtsymphonie, unterlegt mit Wagner und Rachmaninow, von der heute noch eine starke Wirkung ausgeht. Dann auch einige Spielfilme, Preise und Auszeichnungen, das Drehbuch für den von Dominik Graf inszenierten Der Rote Kakadu (2006), aber besonders lang ist Kliers Filmografie nicht. Seine aktuelleren Kurzfilme (Kurztrip, Hung, beide von 2012) sind wieder ganz anders: suchen das punctum, kultivieren das Nicht-Gekonnte, wirken beiläufig.
Idioten der Familie gehört zu der Sorte deutscher Filme, die in Deutschland nicht besonders gut wegkommen. Das wäre schade, denn dieser Film vollbringt die bemerkenswerte Leistung, ein schwieriges Sujet in einer unbekümmerten Sprache zu erzählen. Idioten der Familie ist ein schöner, fragiler, kleiner Film, mit dem man gern die Zeit teilt.
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