I Am You – Kritik
Simone Norths Rekonstruktion des authentischen Falls um das Verschwinden eines jungen Mädchens kann (angesichts ihrer emotionalen Überfrachtung) leider nur sehr begrenzt überzeugen.

Simone North entschied sich bei ihrem Debüt für eine einigermaßen sichere Bank: die Verfilmung einer wahren Begebenheit. Aus unterschiedlichen Blickwinkeln erkundet I Am You das Verschwinden der ältesten Tochter der australischen Familie Barber, das erst nach einer langen Zeit der quälenden Ungewissheit aufgeklärt werden konnte.
Die Handlung beginnt mit der Perspektive der Eltern Michael (Guy Pearce) und Elizabeth (Miranda Otto). Es ist der 1. März 1999. Ohne Vorlauf setzt die Erzählung gleich mit der Katastrophe ein. Die 15-jährige Rachel (Kate Bell) erscheint nicht am vereinbarten Treffpunkt, an dem sie ihr Vater vom Balletttraining abholen wollte. Beide Elternteile ahnen Schreckliches. Rachel ist ihre Prinzessin, eine Mustertochter, die sich nie verspäten würde. So alarmieren sie bereits nach 75 Minuten Wartezeit die Polizei, werden jedoch nicht ernst genommen. Auf eigene Faust machen sie sich mittels Plakaten und Passantenbefragungen auf die Suche nach ihrer Tochter. Erst nach mehreren Tagen greift die Polizei ein, bleibt zunächst aber erfolglos.

North geht es nicht um eine plausible Aufklärung oder eine genaue Schilderung des Tathergangs. Vielmehr versucht sie die emotionale Verfassung der Beteiligten in den Fokus zu nehmen. Visuell gelingt ihr dies. In gefühlvollen Bildern wird das Innere der Protagonisten nach außen gebracht. Immer wieder durchschleicht die Kamera in langsamen und forschenden Fahrten die Szenerien. Manchmal schwenkt sie suchend und ohne Fluchtpunkt umher und verdeutlicht die Situation der Eltern. So sehr die Bildsprache auf sensible Art die Gemütszustände der Figuren zu visualisieren vermag, so sehr schießt der Film leider an der direkten Figurenzeichnung, präziser an der Inszenierung des Verhaltens der Protagonisten über das Ziel hinaus. Die einzelnen Charaktere sind zu einseitig auf ihre Rollen festgelegt. Die Darstellung von Michael und Elizabeth Barber leidet an ihrer Überbetonung als hysterische und verzweifelte Opfer.
Im Zentrum des Films steht Caroline Reid (Ruth Bradley), die für Rachels Verschwinden verantwortlich ist. Diese leidet schon früh unter Depressionen und Selbsthass. Ihre Mutter (Rebecca Gibney), bei der sie nach der Scheidung ihrer Eltern bleiben muss, verabscheut sie. Ihren Vater (Sam Neill) hingegen verehrt sie und leidet furchtbar unter dessen Abweisung und Gefühlskälte. Auch bei Carolines Darstellung gibt es die Kluft zwischen der gelungenen Bildsprache und ihrem völlig überzogenen Agieren. So führt etwa eine eindringliche Kamerafahrt direkt ins gequälte Herz von Caroline. Während diese im Voice-Over erläutert, wie dringend sie Hilfe braucht, tastet sich die Kamera wankend an den Außenwänden ihres Wohnhauses entlang, um bei der Eingangstür in tiefes Schwarz abzutauchen. In ihrem Verhalten wird sie als Täterin nicht dämonisiert, jedoch zu aufdringlich als schreiende oder weinende psychisch Gestörte porträtiert. Bei der etwas jüngeren Rachel, der perfekten und geliebten Tochter ihrer Nachbarn, erkennt sie das Leben, das sie so gerne hätte. Helle, weichgezeichnete, fast traumhafte Bilder zeigen Carolines Blick auf Rachels glückliches Leben. Mit zunehmender Verzweiflung an ihrer eigenen Existenz fasst sie den Entschluss, dieses zu übernehmen.

Beinahe brachial gestaltet sich die Reduzierung von Rachel auf das unbedarfte Glückskind. Zu Beginn des Films beschreibt Elizabeth ihre Tochter der Polizei gegenüber als sehr naiv, was sich als untertrieben erweist. Das Mädchen, das offensichtlich nur die Sonnenseite des Lebens kennt, folgt Caroline in der Annahme an einem verlockend bezahlten Persönlichkeitstest teilzunehmen, sorglos in deren Wohnung. Lächelnd nimmt sie das heimlich in den Drink gemischte Narkotikum ein, während sie fröhlich davon erzählt, was für ein Traumprinz ihr Freund doch sei. Was wahrscheinlich den schockierenden Höhepunkt eines Psychodramas darstellen soll, wird zu unfreiwilligem Amüsement.
Angesichts des ansehnlichen Casts ist es umso bedauerlicher, dass das Drehbuch, für das ebenso die Regisseurin verantwortlich zeichnet, seine Figuren in ihrem Handeln dermaßen eindimensional und überzogen entwirft. Die Darstellungen wirken den ganzen Film über zu gewollt und affektiert. Allesamt entbehren jeglicher Subtilität und zielen unverblümt auf den Effekt ab, der sich damit in das Gegenteil des eigentlich Beabsichtigen verkehrt. Betroffenheit und Anteilnahme weichen bald distanzierter Übersättigung. Wenn dann noch der teils penetrant melancholische Soundtrack hinzukommt, bleibt von dem vermeintlichen Einblick in die Psyche von Täter und Opfern kaum mehr als der – wenn auch ästhetisch ansprechend inszenierte – Blick auf emotionale Überstrapazierung.
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