Human Flowers of Flesh – Kritik
Eine Frau, fünf Männer, ein bekannter Fremdenlegionär und allerlei Belebtes vom Menschen zur Mikrobe. Helena Wittmans wundersamer Human Flowers of the Flesh verweigert jede stabile Auskunft und gibt sich lieber ganz der Bewegung eines Schiffs von Marseille nach Algerien hin.

Das Meer ist geblieben bei Helena Wittmann, an Ort und Stelle, und gleichzeitig muss es ein anderes geworden sein, obwohl seine Wellen immer noch gegen die Felsen klatschen, bis sie sich an ihnen brechen und verschwinden, als wären sie nie da gewesen. Wo sich die Nordsee befand (Drift, 2017), da schwappt jetzt das Mittelmeer, die Sprache teilt das Wasser und trennt die Räume dieser Welt, sortiert sie in ein Davor und ein Danach. Sie unterscheidet das, was wir bezeichnen können, von dem, was (noch) keinen Namen trägt, was erschlossen werden muss, um in ihr System überführt zu werden; ein ganz und gar auf Expansion bedachtes Netz, diese Sprache und dieses Meer, durch das die Augen treiben, während sie sich von den Fäden verabschieden, die in einem alten Europa Orientierung versprachen.
Verbindungen aufnehmen

Nicht von einer Suche handelt Human Flowers of Flesh, sondern von einer Bewegung, die eine Suche sein könnte, die aber kein Subjekt und mehr eine Umgebung bestimmt. Ein Ende hat diese Suche genauso wenig wie einen klaren Anfang, die stabilen Antworten fehlen. „Hey“ lautet das erste Wort dieses Films, „Hello“ das zweite, auf beide Begrüßungsformeln folgt keine Reaktion, denn es reden hier nicht zwei Menschen miteinander, die sich gegenseitig vorstellen würden. Die Ausrufe gelten einem Schiff, das weitere Auskünfte verweigert, und so wird es bleiben in diesem wundersamen Film, der sich auf eine Reise begibt, von Marseille über Korsika nach Sidi bel Abbès und weiter, wohin die Strömung die Menschen auch bringt.

Ida (Angeliki Papoulia) fährt auf diesem Schiff, fünf Männer begleiten sie, die aus unterschiedlichen Ländern kommen, die putzen, bügeln, reparieren, Haare schneiden, vorlesen, an Seilen ziehen und mit zärtlich-rauen Händen ein Herbarium anlegen. Eine Schraube wird gedreht, ein Motor rattert. Was diese Figuren verbindet, ist nicht relevant. Sie scheinen Teile eines unbestimmten Ganzen zu sein, einer transnationalen, gelegentlich homoerotischen Einheit, die zwischen Reisegruppe und Fremdenlegion pendelt. Human Flowers of Flesh interessiert sich für die Uneindeutigkeit von Zuständen mitsamt ihrer paradoxen Gleichzeitigkeit, für Präzision und Abstraktion, Nähe und Distanz, Prozess und Produkt, Referenz und Ablösung.
Posthumanes Netzwerk

Ausgerechnet die Fremdenlegion markiert dabei einen expliziten kinematografischen Bezugspunkt, wenn Wittmann Denis Lavant als Galoup aus Beau Travail (1999) von Claire Denis auftreten lässt. Verweise auf Filme, Märchen, Mythen bilden in Human Flowers of Flesh ein dichtes, assoziatives Gewebe. Verflochten sind die Motive und diejenigen, die sich mal Figuren nannten; Persönlichkeit habe sich zu einem sinnlosen, hinfälligen Konzept entwickelt, heißt es an einer Stelle im Film, und genauer kann nicht beschrieben werden, was Wittmann mit diesen Körpern anstellt, wie sie das Fleisch freigibt für die Gewalt des Meeres und all die Träume, die unter den Freiheitsoberflächen liegen.

Vorgänge des Arbeitens und Begehrens können in diesem Film beobachtet werden – und das nicht nur bei den menschlichen Akteuren. Eine Spinne webt ihr Netz, ein Hummer flieht vor der Hitze am Marktstand, eine Schnecke nähert sich langsam einem Stückchen Wassermelone auf einem Obstteller, ehe eine Hand das Weichtier mitsamt Zuhause versetzt. Gräser, Hügel, Dünen, Büsche, Bäume, Sträucher, Kakteen, Steine, Korallen, Seerosen, Seeigel, Mikroben, Bakterien werden zu Mitspieler*innen in diesem posthumanen Netzwerk, in dem Luft und Wasser vorgeben, wie überhaupt gedreht werden kann. Sie rhythmisieren die Szenen und fordern durch den Raum, den sie herstellen sowie begrenzen, neue Formen des Erzählens, wo Linearität und Fixpunkte abgeschafft sind. Alles ist Bewegung oder wird in Bewegung versetzt, der Wittmann und ihr Team eben folgen, geduldig, neugierig, mit Lust an der Abschweifung, weil sie erst einen Kurs offenlegt und im analogen Filmmaterial ihre Spuren hinterlässt: „Wen man sich von einem Ort entfernt, kommt man einem anderen nahe.“
Blaues Wunder

Einmal stoppt das Rauschen, die Leinwand wird blau und die Wellen verschwinden. So bleibt das Bild stehen, eine ganze Weile, ehe in der blauen Fläche Formen und verschiedene Farbtöne erkennbar werden, die sich auf der Netzhaut verschieben. Es ist unklar, ob es sich um einen Blick auf das Meer oder in den Himmel handelt, ob wir uns über oder unter dem Meer befinden, und auf das schauen, was war, oder auf das, was kommen wird. „Wir vergessen nie und nimmermehr“, singt ein Chor wie eine Warnung, die rausgeht an diese kleine, kleine Welt, in der die Sprache immer in Meeresnähe liegt.
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