Rückkehr nach Korsika – Kritik
Nach vorne preschender Coming-of-Age-Film und nachdenkliches Familiendrama: Catherine Corsinis Film über die Reise einer Frau und ihrer beiden Teenagertöchter wird umso besser, je mehr sich beides in die Quere kommt.

Die Engel dieser Geschichte heißen Khédidja, Farah und Jessica, sie stehen zu Beginn dieses Films ganz oben am Heck einer Fähre, die gerade ablegt und Marseille in Richtung Korsika verlässt. Die drei blicken also zurück aufs sich entfernende Festland, während das Schiff sie längst in Richtung der Insel trägt. Es ist diese doppelte Bewegung aus Vorankommen und Zurückblicken, die Catherine Corsinis Rückkehr nach Korsika (Le retour) ausmacht: Der für die beiden Teenager Jessica (Suzy Bemba) und Farah (Esther Gohourou) zumindest potenziell aufregende Sommertrip ist für ihre Mutter Khédidja (Aïssatou Diallo Sagna) nicht nur harte Arbeit – sie soll auf die Kinder einer reichen, weißen Familie nun auch in deren Sommerdomizil aufpassen –, sondern eben auch eine Rückkehr. Reise zurück in eine Vergangenheit, an die sich Jessica und Farah nicht erinnern können, weil sie zu klein waren, als ihre Mutter sie, wie im etwas penetrant Fragen aufwerfenden Prolog zu sehen ist, aus der korsischen Heimat brachte.
Zwei Schwestern, die unterschiedlicher nicht sein könnten

Rückkehr nach Korsika bewegt sich aber nicht nur gleichzeitig vor und zurück, sondern auch zu zwei Seiten hin, und dafür sind die Schwestern verantwortlich, die, diese Phrase passt hier durchaus mal, unterschiedlicher nicht sein könnten. Jessica ist 18, höflich und zurückgenommen, ihrer Mutter ganzer Stolz, wird bald auf die Sciences Po gehen, ist sehr interessiert an Korsika, wo sie die ersten drei Jahre ihres Lebens verbracht hat. Farah ist 15, heftig am Pubertieren und uninteressiert an Insel oder Urlaub, mit viel Unsinn und wenig Sinn für Schule im Kopf und daher eher Quelle mütterlicher Sorge. Dabei glaubt sie zu durchschauen, dass der Erfolg der vermeintlich schlaueren und charmanteren Jessica auch etwas mit deren „weißeren“ Vornamen zu tun hat, mit dem sie es deutlich leichter hat, in der französischen Gesellschaft anzukommen als Farah.
Der Moment, in der Farah ihrer Mutter das vorwirft, ist nur ein Beispiel für einige Szenen, die sich auf eher hemdsärmelige Weise komplexen Race-Class-Konstellationen nähern, was mal frustrierend, mal erfrischend ist. So muss Jessica bald erkennen, dass ihr die aufregende Sommeraffäre mit Gaïa (Lomane de Dietrich), der ältesten Tochter der Familie, für die Khédidja arbeitet, zwar Eintritt in eine Villa und vielleicht bald eine Wohnung in Paris verschafft, sich die Lücke zwischen der fleißigen Vorzeigeschülerin aus ärmeren Verhältnissen und der ganz ohne eigenes Zutun Privilegierten aber niemals ganz schließen wird.
Die Fallhöhe bleibt virtuell

Mit den zwei Bewegungen kommen gewissermaßen auch zwei Filme auf Korsika an. Einmal ein stets nach vorne preschender Coming-of-Age-Film, in dem das Begehren urplötzlich auftritt und in dem so einiges passiert, in dem nicht nur Jessica ihre ersten sexuellen Erfahrungen macht, sondern auch Farah einem bleichen Strandidioten sein Marihuana klaut und es an Touris verkauft, in dem beide Schwestern irgendwann auf einer exzessiven und Ecstasy-getränkten Strandparty landen. Und dann ein eher nachdenkliches Familiendrama, in dem es die Erinnerungen sind, die urplötzlich auftreten, in dem Khédidja den besten Freund ihres verstorbenen Mannes wieder trifft und sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen muss.
Rückkehr nach Korsika kommt in dem Maße zu sich, wie diese beiden Filme nicht mehr ihre eigenen Wege gehen, sondern sich in die Quere kommen und sogar überkreuzen. Dann erlebt auch Khédidja einen klassischen Coming-of-Age-Moment, und dann muss auch Jessica sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen, denn ein Trip mit der Sommerliebe führt sie ins Dorf von früher, wo ein schmerzvolles Geheimnis wartet. Und Farah muss im Zuge ihres Dealer-Subplots ein paar Zeilen im Tagebuch ihrer Schwester lesen, die ihr nicht minder wehtun. Ganz nonchalant steuert Corsini auf diese dramatischen Momente im Leben einer Familie zu, die fortan ohne die Lügen leben muss, die sie bis dato zusammenhielt. Die Seichtheit des Films äußerst sich wohl nirgends so deutlich wie in diesen Szenen, die noch in ihren äußersten Zuspitzungen schon von der Versöhnung am Ende künden. Die große Fallhöhe bleibt immer virtuell, ist im Drehbuch, aber nicht im Bild angelegt.
Ohne Rücksicht auf Substanzverluste

Das Seichte, mitunter Kitschige des Films ist aber zugleich das Schöne, weil Corsini nichts versteckt, weil sie die Dinge nicht aus den Tiefen der Seele an die Oberfläche holt, sondern alles von vornherein Oberfläche ist, wie das im Sommerfilm nun mal so ist. Noch die düstersten Geheimnisse werden in lichtdurchfluteten Landschaften enthüllt, den lebensgefährlichen Showdown gibt’s am Strand. Ein Film ohne Rücksicht auf Substanzverluste, der niemals Subtilität vortäuscht, auch wenn das manchmal heißt, ästhetisch wie erzählerisch auf allzu ausgetretenen Pfaden zu wandern oder die Nahtstellen zu offenbaren, an denen die Handlung dann doch etwas notdürftig zusammengenäht wurde.
So ist Rückkehr nach Korsika ein Film, in dem die Teile mehr sind als das Ganze, ein Film also, der als Gesamtwerk nicht vollständig überzeugt, aber in fast all seinen Momenten bereichert. Und das liegt ganz maßgeblich an den drei Engeln dieser Geschichte und ihren Darstellerinnen: Esther Gohourou, die einschneidende Ereignisse im Leben ihrer Figur vermittelt, ohne aufzuhören, trotziger Teenager zu sein; Suzy Bemba, die Jessica bis zum Schluss von innen leuchten lässt, was die Rückschläge, die diese Jessica erfährt, nur umso tragischer macht; und schließlich Aïssatou Diallo Sagna, die als überarbeitete Krankenpflegerin bereits im Zentrum von Corsinis letztem Film In den besten Händen (La fracture, 2021) stand. In ihrem freundlich distanzierten, im Umgang mit ihren Töchtern zwischen Verunsicherung und Bestimmtheit changierenden Verhalten auf Korsika, einer Insel, auf der sie Zeit ihres Lebens eine Fremde blieb, verbirgt sich schon so viel Geschichte ihrer Khédidja, dass die Rückblende, die der Film schließlich doch noch einzieht, um auf die Fragen im Prolog zu antworten, gar nicht nötig gewesen wäre.
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