Hör auf zu lügen – Kritik
Ein junger Schwuler, der aus der Provinz ausbrechen möchte, wird zum Schriftsteller, der in der verhassten Heimat seine Wunden heilen will. Olivier Peyon erzählt von vertanen Chancen sowie einer erlösenden Begegnung und besticht vor allem mit Musik und intimen Flashbacks.

Drei fließende Bewegungen zu melancholisch stimmender Elektromusik von Thylacine: erst ein Auto, das durch eine von Feldern durchzogene, sonnendurchflutete Landschaft fährt; dann ein Motorrad, das auf einer von Bäumen gesäumten Straße fährt; schließlich ein Zug, der an Feldern vorbeirauscht. Der Schnitt täuscht eine Nähe vor zwischen den drei Männern, die da jeweils durch ländliches Gebiet fahren; die Kamera ist nah an ihren verschlossenen und konzentrierten Gesichtern; der Blick schweift in die Ferne, suchend. Doch die Bewegungen sind gegenläufig, die Begegnung unmöglich; die Männer bewegen sich nicht aufeinander zu, sondern jeder in eine andere Richtung, mehr noch: zu einer anderen Zeit, wie wir später verstehen werden.
Gender Trouble im Cognac-Keller

Hör auf zu lügen ist die Geschichte von drei Männern, deren Verbindung gestört wurde. Im Zentrum steht Thomas (Julien de Saint Jean). Aus der Perspektive von Lucas (Victor Belmondo) ein in sich gekehrter Vater, zu dem er zeitlebens keinen Zugang gefunden hat; aus der Perspektive von Stéphane (Guillaume de Tonquédec) die große Liebe, die damals ohne Erklärung aus seinem Leben verschwunden ist. Hör auf zu lügen ist ein Film über verpasste Chancen, Wege, die nicht mehr gegangen werden können, Dinge, die nicht mehr nachzuholen sind, Erklärungen, die einem schuldig geblieben sind. Doch Lucas und Stéphane – die Verlassenen, die Verletzten – werden sich begegnen und in der Begegnung das Bild von Thomas konstruieren, das ihnen jeweils gefehlt hat.

Eine Liebe, die nur einen Sommer hält; ein junger Schwuler, der aus der Provinz ausbrechen möchte und sich mit dem Schreiben emanzipieren wird; ein erwachsener Schriftsteller, der in die Heimat zurückkehrt und die dort erlittenen Wunden zu heilen versucht – es sind wahrlich keine neuen Themen, die Oliver Peyon da verfilmt, und auch manch eine Aufnahme dürfte einem verbraucht vorkommen, etwa die Szene, in der sich der erwachsene Stéphane tröstend neben die junge Version seiner selbst setzt, der eben das Herz gebrochen wurde.

Auch der in der Gegenwart spielende Überbau, in den die Sommerliebe 1984 als Flashback eingebettet ist, trägt seine Motive etwas zu deutlich vor sich her: Der erwachsene Stéphane, mittlerweile ein erfolgreicher Schriftsteller, soll eine Rede zum 200-jährigen Jubiläum eines Cognac-Herstellers halten; von der Rede des homosexuellen Schriftstellers im geschichtsträchtigen Haus erhofft man sich den kleinen Touch Modernität, der den Traditionsreichtum wohlig erschaudern lässt. Gegenwart und Vergangenheit, Tradition und Modernität, Fiktion und Erinnerung – es sind schlüssige Motive, die Olivier Peyon findet, aber sie rauben dem Film die Ambivalenz, sie nehmen dem Zuschauer die Möglichkeit, sich in dem Film zu verirren.
Die Suche nach Wahrheit

Das Schönste an Hör auf zu lügen – neben dem großartigen Soundtrack von Thylacine – sind die Filmschnipsel, in denen die Liebesgeschichte zwischen Stéphane (Jérémy Gillet) und Thomas nacherzählt wird. Es ist erst eine Geschichte von Gegensätzen: Stéphane versteckt nicht sein Anderssein, trägt eine nerdige Brille, pflegt seine Liebe zu Büchern und zum Schreiben; Thomas dagegen gibt sich tough, imponiert auf seinem Motorrad, fängt die Blicke der Mädchen. Es ist Stéphane, der Thomas durch seine intensiven Blicke zu verstehen gibt, dass er an ihm Interesse hat; aber es ist Thomas, der Stéphane schließlich anspricht und ihm einen Zettel zusteckt. Die erste intime Begegnung ist unvereinbart brutal; Thomas scheint außerstande, sich anders auf ein sexuelles Verhältnis mit einem Mann einzulassen als in einer dominierenden, rücksichtlosen Rolle. Doch Stéphane ist geduldig, wird Thomas Zärtlichkeit lehren und ihm den Raum geben, sich fallenzulassen.

Der Titel des Films ist eine Anspielung auf Stéphanes Mutter, die den mit überbordender Fantasie begnadeten Jungen immer wieder in die Schranken gewiesen hat. Der Ausspruch nimmt in diesem Film eine vielfältige Rolle ein: Da ist zuerst Stéphanes literarisches Werk, das – so werden wir erfahren – die Anweisung sehr ernst genommen hat und, anders als von der Leserschaft vielfach angenommen, sich immer wieder mit den realen Ereignissen dieses verhängnisvollen Sommers auseinandersetzt: Immer wieder gibt es einen Protagonisten, der Thomas heißt. „Hör auf zu lügen“ steht aber auch für Thomas’ Verhältnis zu seiner Homosexualität. Zeitlebens wird es ihm nicht gelingen, die Scham zu überwinden und zu ihr zu stehen. Erst als sich Lucas und Stéphane auf Spurensuche begeben, kann der mütterliche Ausspruch eingelöst werden und die Wahrheit ans Licht kommen.
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